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Gesellschaft

«Triage» – die grausame Auswahl

In der Not retten die Sanitäter nicht alle. «QS’ler» bleiben am besten in ihrer Stube hocken.

In der Not retten die Sanitäter nicht alle. «QS’ler» bleiben am besten in ihrer Stube hocken.

«Triage machen» ist eine Redewendung, die wir im Alltag gelegentlich brauchen. So zum Beispiel am Tag vor dem Flohmarkt: Wir sortieren aus, machen Triage, welche der vielen alten Bücher wir weggeben und welche wir behalten.

Jetzt plötzlich begegnen wir dem Begriff in seiner ursprünglichen militärmedizinischen Bedeutung. Zuvor hat der Bundesrat bekanntlich wegen der Corona-Pandemie am 28. Februar 2020 die «Besondere Lage» ausgerufen, zweieinhalb Wochen später, am 16. März, die «Ausserordentliche Lage». Das heisst, es lauert Gefahr, unser Gesundheitssystem stösst an seine Grenzen.

Im Krieg beantwortet die Triage die Frage, welche Verletzten die Sanitätssoldaten unter Lebensgefahr als erste bergen sollen. Ich selbst war 1975 «Truppensanitäter» bei der Infanterie. Dort haben ich und meine Kameraden gelernt, dass wir bei Verdacht auf Rückenverletzungen «immer zuerst den Arzt holen müssen». Im Kanonendonner, bei Salven von Maschinengewehren und explodierenden Granaten ist das wenig realistisch, wussten damals alle, ohne dass irgendwer das ausgesprochen hätte.

Das bedeutet, wer eine Rückenverletzung hat, bleibt lange, wahrscheinlich für immer liegen. Armeen sind interessiert, die mit den höchsten Überlebenschancen als erste zu retten. Im günstigsten Fall sind sie schon bald wieder kampffähig.

türen

In der Kriegsmedizin heisst es: Nur wer gute Überlebenschancen hat, darf durch die gelbe Türe.

Dieses Aussortieren ist grausam, in seiner Unbarmherzigkeit aber durchaus gerecht. Es liegt ihm eine nachvollziehbare Überlegung zugrunde, die sich nicht am Individuum, sondern an der Verletzungsart orientiert. Auch ein potenziell querschnittgelähmter Offizier, womöglich eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, muss im schlimmsten Falle warten.

Diese Methode der Triage, die in Kriegssituationen angewendet wird, lässt sich in Friedenszeiten in ihr Gegenteil verkehren. Es kommen diejenigen in den Genuss medizinischer Hilfe, die es am nötigsten haben, deren Leben am unmittelbarsten bedroht ist. Alle anderen mit harmloseren Symptomen stehen hinten an und sind eingeladen, sich selbst zu kurieren. Wer nur Wehwehchen hat, braucht gar nicht zu kommen.

Dieses auf den ersten Blick menschenfreundlichere Auswahlverfahren stösst an seine Grenzen, sobald die Kapazitäten des Gesundheitssystems überlastet sind. Es vermischt sich dann unter dem Druck der Realität mit Elementen der Kriegstriage.

Geht die Gefahr von einer Infektionskrankheit aus, besteht zusätzlich die Notwendigkeit, die Infizierten zu isolieren. In alten Zeiten waren sie im Siechenhaus. Der Vergleich ist makaber. Trotzdem stimmt er und ist hochaktuell.

Die Frage, wohin es uns «Menschen mit Querschnittlähmung» im Zuge einer Triage verschlägt und wie es uns unter einem solchen Regime ergeht, stimmt mich nachdenklich. Bei rigider Aussortierung in akuter Not stehen unsere Aktien schlecht, zumal wir kaum zusätzliche Lasten stemmen können. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir Kinder eines Systems sind, das jedes Leben um fast jeden Preis verlängern und retten will, Verletzte rehabilitiert. Dieses System ist jedoch in Zeiten einer Pandemie – zumindest teilweise – ausgesetzt.

intensivmedizin

Auf der Intensivstation: Wenn die Betten knapp sind, werden «QS’ler» kaum erste Wahl sein.

Riskant wird es für uns, wenn die verfügten Massnahmen zur Selbstisolierung gelockert werden. Das Virus ist dann zwar eingedämmt, aber nicht ins Weltall entschwunden. Sollen wir dann feiern, uns berauschen und unterhalten lassen: in stimmungsvollen Wirtshäusern, prall gefüllten Fussballstadien oder dem Opernhaus? Alles wie zu besten Zeiten?

Ich fürchte, wir werden aus Vernunft darauf verzichten müssen.

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