Hoi Zäme
Ich war jüngst in St. Moritz und habe meine Erlebnisse schriftlich festgehalten:
Top of the World?
«Wandern im Rollstuhl ohne Barrieren» titelt das Magazin «Allegra» des Engadiner Tourismusverbands. In Scuol-Zernez kann man geländegängige Rollstühle mieten – man bekommt den Eindruck, das Engadin heisse Besucher im Rollstuhl willkommen. Weiter von der Realität könnte diese Vorstellung jedoch kaum sein.
Jüngst wollte ich, Elektrorollstuhlfahrer, das Corviglia-Gebiet oberhalb von St. Moritz besuchen. Vorher angefragt, ob die Bahn rollstuhlgängig ist, habe ich nicht. Ich bin einfach davon ausgegangen, schliesslich ist 2019, 15 Jahre nach Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes, 5 Jahre nach der Ratifizierung der UNO-Behindertenrechtskonvention, und St. Moritz wohl einer der reichsten Tourismusstandorte der Schweiz. Vom Berner Oberland oder vom Wallis bin ich gewohnt, dass der Rollstuhl kein Problem mehr darstellt. Also stehe ich früh am Morgen vor der Talstation der Standseilbahn und sehe jede Menge Stufen. «Top of the World» lese ich am Schild der Seilbahn. Nicht gerade bescheiden, denke ich. Der Mitarbeiter der Seilbahn ist untröstlich, die Bahn sei nicht rollstuhlgängig. Man müsse immer wieder Rollstuhlfahrer abweisen, der Geschäftsleitung scheine es egal zu sein.
Damit sind unsere Pläne für den Tag erstmal im Eimer. Also gehen wir ins Tourismusmusbüro, um uns beraten zu lassen. Der Berater scheint überfordert und googelt erstmal am Computer vor sich hin. Das hätten wir auch gekonnt. Dann sagt er, er müsse kurz im Backoffice schauen und verschwindet. Nach einigen Minuten wird uns die Warterei zu dumm und wir verlassen das Büro um uns selber zu helfen. Also verbringen wir unseren Ferientag erstmal mit Telefonieren. Das Ergebnis: Corviglia bleibt für Rollstuhlfahrer unerreichbar, ebenso Furtschellas und Diavolezza. Wie war das nochmal, «Top of the World»?
Wir erfahren, dass die Bahn auf den Murottas Muragel rollstuhlgängig sei, also fahren wir hin. Dort angekommen sagt man uns, dass die Velos meiner Begleiter unten bleiben müssen. Da unsere Pläne eh schon über den Haufen sind, wird auch das stillschweigend in Kauf genommen. Man bringt uns zur Bahn, einem Modell aus den frühen 70ern: Rollstuhlgängig ist dabei ein grosses Wort, der Rollstuhlfahrer muss, um hinein zu gelangen, eine gefährliche Schräglage in Kauf nehmen. Oben angekommen, führt der Weg aus der Bahn über ein selbergebasteltes Podest zu einem Treppenlift. Auf diesem Treppenlift angekommen, geht erstmal gar nichts. Der Bahnmitarbeiter murmelt etwas von zu schwer, obwohl die maximale Nutzlast um 60 Kilo unterschritten ist. Nach einer Weile kommt er auf die Idee, den Rollstuhl gegen die Aufhängung des Lifts zu drücken, um eine Gewichtsverlagerung zu erreichen. Meine Begleiter helfen mit, schliesslich geht es aufwärts.
Der Tag wir doch noch schön, aber vielmehr trotz, nicht dank den Oberengadiner Bergbahnen. Es beschleicht einem im Falle von St. Moritz der Verdacht, dass man dank russischem Geld einfach zu verwöhnt ist, um innovativ zu sein. Oder man findet, Behinderte passen einfach nicht ins Ortsbild mit den Reichen und Schönen, weshalb man sie ganz bewusst ausgrenzt.
«Top of the World»? Nicht wirklich.
Inzwischen bin ich wieder in Bern angekommen – meine Zugfahrt mit der RhB musste ich 24h im Voraus anmelden, im Gegensatz zu der einen Stunde Voranmeldefrist im Rest der Schweiz.