Lieber carken,
vielen Dank fürs Teilen dieser interessanten Gedanken. Da hast Du mich jetzt auch zum Nachdenken gebracht über das Thema gesellschaftliche Verhaltensregeln und Freiheiten. Ich finde das Thema gar nicht so einfach.
Grundsätzlich erlebe ich es so, dass von Menschen erst einmal erwartet wird, dass sie gesellschaftlichen Verhaltensregeln entsprechen. Ich erlebe es so, dass Ausnahmen nur in eindeutigen Fällen anerkannt werden. Ein Beispiel: Wenn ich als Fußgängerin an einer öffentlichen Veranstaltung teilnehme, für die man anstehen muss und in der es keine ausgezeichneten Sitzplätze gibt, ich aber aufgrund meiner gesundheitlichen Probleme nur auf wenigen der Sitzplätze sitzen kann, weil ich mittig sitzen muss und die Möglichkeit brauche, den Kopf anzulehnen. Lange stehen kann ich nicht, daher ist es für mich nicht möglich, frühzeitig da zu sein und als erste in der Reihe anzustehen, um einen der wenigen möglichen Plätze zu bekommen - das wäre aber das, was eigentlich von mir erwartet würde.
Wenn ich in so einer Situation nun auf die Order zugehe und darum bitte, aufgrund meiner Behinderung vorab im Saal einen für mich geeigneten Sitzplatz reservieren zu dürfen, dann wird das ganz oft als "Beugen der Regeln" verstanden, nicht als Nachteilsausgleich. Ich begegne dann erst einmal Ablehnung und Misstrauen.
Hinsichtlich der zwischenmenschlichen Verhaltensregeln ist meine bisherige Erfahrung auch eher die, dass ich die Regeln eher übererfüllen muss - dass ich mir nicht leisten kann, die Missgunst von Ärzten und Therapeuten zu riskieren. Fälle wie meiner kosten die Ärzte viel Zeit und werden schlecht bezahlt, auch die Therapeuten können nicht nach Schema F vorgehen, sondern müssen sich mehr Gedanken machen, mehr Arbeit hinein stecken. Es war schwierig, überhaupt Ärzte zu finden, die bereit waren, meinen Fall zu begleiten. Ich habe einmal gesagt, dass Patienten mit benachteiligten Krankheitsbildern sich bemühen müssen, extra umgänglich und doppelt so nett zu sein, um eine Chance zu haben, dass Ärzte sich für ihren Fall interessieren und vielleicht sogar bereit sind, sich mehr in das Krankheitsbild einzuarbeiten und für das Krankheitsbild zu engagieren. Man ist einfach abhängig.
Ein Stück weit frage ich mich also:
Was sind die Voraussetzungen, damit man es sich leisten kann, den gesellschaftlichen Erwartungen nicht zu entsprechen? Muss man eine eindeutige, nicht anzweifelbare Position haben? Muss eine Infrastruktur gegeben sein, die Unterstützung garantiert?
Ich denke schon auch, dass eine zweifellos anerkannte Behinderung Freiheit bedeuten kann insofern, dass eher Verständnis da ist, eher Nachteilsausgleiche gewährt werden, eher erkannt wird, dass "übliche Regeln" vielleicht nicht angemessen sind - quasi eine Legitimation.
Ob der Ansatz, Erwartungen anderer überzuerfüllen, letzten Endes erfolgreich ist oder ob man eher sagen sollte: "so nicht - die Last sollte nicht bei mir liegen"? Ich weiss es nicht. Es wäre wünschenswert, dass das zweite möglich ist - aber ich glaube, es muss sich noch manches ändern, damit es das ist. Ich werde an dem Punkt auch zunehmend kritischer gegenüber Erwartungshaltungen und traue mich auch eher, meine internalisierten Erwartungshaltungen zu hinterfragen, meine Bedürfnisse und Kritik zu äußern.
Liebe Grüße,
odyssita