Lieber Francesco,
hier in Deutschland gibt es auch viele Menschen, die so denken wie Du.
Ich versuche, mir ein Bild zu machen, indem ich mir die Rohdaten der Zahlen und Krankheitsverläufe anschaue (viele wissenschaftliche Publikationen sind offen einsehbar) und Einschätzungen von Ärzten und Forschern aus verschiedenen Ländern, vorrangig Virologen und Epidemiologen, lese.
Hier sind ein paar Gründe, warum ich denke, dass die Situation sehr ernst genommen werden muss und es gefährlich ist, sie zu verharmlosen:
- Das Virus gehört zwar der Familie der schon länger bekannten Coronaviren an (das sagt etwas über den grundsätzlichen Aufbau des Virus aus), aber es ist in seiner speziellen Wirkweise (u.a. wie ansteckend es ist und welche Krankheitssymptome es verursacht) neu (so wie SARS und MERS es auch waren). Die verschiedenen schon bekannten Coronaviren bei Mensch und Tier sind sehr unterschiedlich, so dass man da nicht generalisieren kann. Über das neue Virus weiss man noch sehr wenig, die Forschung ist noch am Anfang und es gibt noch viele offene Fragen und Ungewissheiten. Man weiss noch nicht genau, wie die Übertragungswege sind (man arbeitet aktuell mit Annahmen, aber dass sich Menschen trotz der empfohlenen Schutzmassnahmen anstecken, wirft Fragen auf), wieviele der Infizierten Komplikationen bekommen oder gar versterben (beides deutet im Moment auf eine deutlich höhere Zahl als bei der Grippe hin), welche Menschen besonders gefährdet sind oder welche Behandlungsansätze es gibt, wie lange man immun ist und was passieren würde, wenn man sich erneut oder mit einem ähnlichen Virus infiziert. Es gibt Hinweise auf einige dieser Fragen, aber auch noch viele offene Fragen und Unklarheiten.
- Es gibt diverse Hinweise darauf, dass Menschen, die keine Symptome haben, andere trotzdem anstecken können. Das macht es sehr schwierig, die Verbreitung aufzuhalten.
- Während es bei der Grippe meist einen Teil von Menschen gibt, die eine gewisse Immunität mitbringen durch vorherige Erkrankungen oder Impfung, trifft das neuartige Coronavirus weltweit ziemlich zeitgleich auf Menschen, die nicht immun sind. Wenn viele Menschen zeitgleich so krank sind, dass sie nicht ihrer Arbeit nachgehen können oder ärztliche Unterstützung - vielleicht sogar auf einer Intensivstation, in China bei immerhin ca. 5% der Fälle - brauchen, dann stellt das eine enorme Belastung für jedes Gesundheitssystem dar. Darum wäre es extrem wichtig, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen, so dass die Fälle zeitlich versetzt auftreten.
- Ich weiss nicht, wie das in der Schweiz ist - aber zumindest hier ist jetzt schon absehbar, dass es zu Lieferengpässen bei Schutzausrüstung für Ärzte und Pfleger und bei Medikamenten kommen wird, weil vieles davon in China und Asien produziert wird und von dort nicht mehr das Land verlassen kann bzw. darf.
Das neuartige Coronavirus ist kein Influenza-Virus. Es ist eine andere Virenart, die sich anders verhält. Es gibt zwar Gemeinsamkeiten (dass die Atemwege betroffen sind, Fieber auftreten kann etc.), aber das bedeutet nicht, dass es nur eine Grippe ist. Ich denke, dass diese Vereinfachung und Verharmlosung problematisch ist, weil Menschen dann dazu neigen, die oben genannten Probleme nicht ernst zu nehmen. Um die Ausbreitung eines solchen Erregers zu verlangsamen, kommt es aber darauf an, wie sich jeder einzelne verhält.
Nun wähle ich die Medien, über die ich mich informiere, natürlich aus. Bei den Medien, über die ich mich informiere, habe ich eher den Eindruck, dass die Problematik der Lage, die sich aus den Daten und Einschätzungen von Virologen und Epidemiologen abgezeichnet hat, lange Zeit nicht wiedergegeben wurde und stattdessen beschwichtigt wurde statt konkrete Informationen weiterzugeben. Am Rande bekomme ich mit, dass es auf anderen Kanälen auch Verschwörungstheorien gibt, das ist natürlich noch mal ein ganz anderes Problem und nicht hilfreich. Aber was ich als sehr, sehr problematisch ansehe ist, wenn es als Hysterie abgetan wird, wenn Menschen sich informieren, auf Probleme hinweisen und sich vorbereiten, um Problemen zu begegnen.
Zu Beginn der Ausbreitung des Virus hat die Angst vor der Hysterie dazu geführt, dass nicht transparent Informationen weitergegeben wurden und wichtige Massnahmen verzögert wurden "um die Bevölkerung nicht zu beunruhigen". Ich sehe da genau dieselben Mechanismen, mit denen - auch im Gesundheitssystem - so oft auf Situationen der Unsicherheit, auf unklare Datenlagen, reagiert wird, und deren problematische Folgen ich schon so oft am eigenen Leib erlebt habe:
- Dass psychische Faktoren ("Hysterie") in solchen Situationen der Unsicherheit höher bewertet werden als körperliche Faktoren. Ein Beispiel, das mir sehr bitter aufgestossen ist: Da fragte eine Wissenschaftsjournalistin (!) ob es denn nicht richtig gewesen sei, Karneval nicht abzusagen, denn Karneval mache ja Freude und das sei ja auch wichtig für die Gesundheit. Mir fehlen da die Worte.
- Dass Informationen erst einmal angezweifelt werden und erst dann als valide angesehen werden, wenn sie entweder in einem Fachjournal mit Peer-Review publiziert wurden oder es mit eigenen Augen (oder zumindest im eigenen Land) gesehen wurde. Dadurch verstreicht wichtige Zeit. Ich halte z.B. die Informationen zum Verlauf in China - zusammengefasst u.a. durch den Bericht der WHO - für sehr wichtig und wundere mich, dass hier so wenig darüber berichtet wird.
Hinzu kommt:
- Dass bürokratische Hindernisse und unklare Zuständigkeiten Steine in den Weg legen.
- Dass sich viele Entscheidungen an wirtschaftlichen Faktoren und den Interessen der "Starken" orientieren, statt sich gemeinsam dafür einzusetzen, diejenigen zu schützen, die mehr gefährdet sind und dafür gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.
Noch manches mehr, vielleicht ergänze ich das später...
Die Erzählweise, dass sich die Natur nun rächt, es sowieso zu viele Menschen auf der Welt gibt und es ja nicht so schlimm sei, wenn es vor allem diejenigen erwische, die älter und/oder nicht so leistungsfähig seien, sehe ich auch sehr problematisch. Das grenzt an Eugenik.
Und ja, Du hast recht: Sich verantwortungsvoll zu verhalten, wenn man krank ist, um andere nicht anzustecken (zu Hause bleiben, vor Treffen mit anderen diese informieren, damit diese das Risiko für sich abwägen können, Hände waschen etc.) würde ich mir auch sonst wünschen. Ich denke, diese Situation wird eine Härteprobe werden, wie wir als Gesellschaft uns verantwortungsvoll verhalten, auch um andere zu schützen, und ggf. da einspringen und füreinander sorgen, wo offiziell zuständige Stellen an ihre Grenzen kommen.
Ganz liebe Grüße,
odyssita