Hallo Dr. JEAN,
lieben Dank für die Antwort. Ich fände es auch spannend, weitere Meinungen dazu zu hören! Und ich finde es wirklich toll und so bereichernd, sich zu diesen Themen austauschen zu können, eben auch über die Grenzen Arzt-Patient hinweg. Das ist ja tatsächlich im klinischen Alltag eher nicht so möglich, aufgrund der zeitlichen Einschränkungen und des Machtgefälles.
Hm, zu Ihrem Satz "Wenn wir "funktionell" lesen, denken wir nicht "Der Patient hat nichts". Wir denken " Der Patient hat etwas, aber wir finden keine Erklärung"" kommt bei mir die Frage auf: Inwiefern suchen Ärzte denn selber noch nach einer Erklärung, wenn es eine solche Diagnose gibt, und inwiefern verlassen sie sich darauf, dass ihre Kollegen eine umfassende Differentialdiagnostik durchgeführt haben? Dasselbe könnte man natürlich zu Diagnosen, die als"psychogen" oder sogar als "idiopathisch" beschrieben werden, fragen. Ich denke, auch das ist eine Form von diagnostic overshadowing. Ähnlich wie beim Thema Bias allgemein denke ich manchmal, es wäre vielleicht hilfreich, wenn man das als etwas ansehen würde, was eine natürliche Tendenz ist, der jeder aktiv entgegenwirken muss - nicht als etwas Schlechtes, was ein paar wenige andere machen.
Zur Diagnose funktionelle neurologische Störung gibt es tatsächlich immer wieder große Diskussionen. Es gibt Patienten, die über diese Diagnose erleichtert sind und sich endlich ernst genommen fühlen. Auf der anderen Seite gibt es nicht wenige, die das diagnostische Konstrukt sehr, sehr kritisch sehen, unter anderem, weil es zur Überdiagnostik neigt, wenig differenziert und sich mit einer Blackbox-Erklärung zufrieden gibt, und weil es eben doch auch als Nachfolge-Diagnose für Konversionsstörung eingesetzt wird. Ich finde das diagnostische Konstrukt tatsächlich inhaltlich nicht überzeugend (ich bezweifle sehr, dass die Testkriterien spezifisch sind), auf zu vielen unbewiesenen Annahmen basierend und ethisch problematisch. Besonders problematisch ist, dass bestimmte Krankheitsbilder, für die eine genauere Differenzierung und körperliche Erklärung für die Symptome möglich ist und es zielgerichtete Behandlungsansätze gäbe, von dieser Überdiagnostik und diagnostic overshadowing betroffen sind, wie z.B. hereditäre Bindegewebserkrankungen mit Komorbiditäten.
Ich denke, es wäre viel hilfreicher, wenn Ärzte einfach "ich weiss es nicht" schreiben könnten. Ich frage mich, was dem im Wege steht? Das würde mich wirklich interessieren.
Ihre Einstellung, dass man sich als Arzt immer wieder die Frage stellen muss, ob man bisher falsch lag, find ich so wichtig (und leider nicht sehr weit verbreitet, sowohl auf eigene Einschätzungen als auch auf die von Kollegen bezogen) - danke dafür! Ich bin ja ein großer Fan des kritischen Rationalismus und finde diesen Ansatz daher so wichtig.
Das mit dem vernünftigen Mass ist eine schwierige Frage in sich selber. Oft lässt sich diese Frage herunterbrechen auf ein Abwägen zwischen den zwei Zielen/Werten der Kostenreduktion und der Verringerung des Leidens des Patienten (eine ethische Frage!). Da spielen natürlich die Erfolgschancen mit hinein. Was mich manchmal nachdenklich macht ist, dass die evidenz-basierte Medizin in Richtung Untätigkeit biased ist: Es wird als ethisch richtig angesehen, nur zu behandeln, wenn es klare Evidenz für gute Erfolgsaussichten der Behandlung gibt. Die Pandemie hat einige der damit verbundenen Probleme, auf die Patienten mit nicht gut erforschten Krankheitsbildern schon lange hingewiesen haben, recht deutlich aufgezeigt. Wenn man etwas nicht weiss oder nicht gut versteht, dann ist eigentlich die richtige Antwort, aktiv Forschung dazu zu fördern, und manchmal bedeutet das precautionary principle eben auch, zu handeln, obwohl es noch nicht ausreichend Forschung gibt (wie z.B. hinsichtlich der Frage, ob man in einer über die Atemwege übertragbaren Pandemie Mund-Nasen-Schutz tragen sollte). Manchmal wünsche ich mir, dass andere medizinische Bereiche von der Anästhesie lernen würden - da scheint es ganz viel Expertise in der Anwendung des precautionary principle und Risikomanagement zu geben.
Ich habe den Eindruck, ganz oft wird in der medizinischen Praxis absence of evidence mit evidence of absence gleichgesetzt, sei es bei der Diagnostik oder bei der Bewertung von Therapiechancen. Wenn nicht gleichzeitig mehr Forschung gefördert wird, um das, wofür die Evidenzlage noch nicht ausreichend klar ist, zu erforschen, bedeutet das, dass Patienten alleine gelassen werden. Teilweise habe ich den Eindruck, dass sogar systemische Diskriminierung dessen, was wenig erforscht ist, die Folge ist.
Noch einmal ein Beispiel von mir: Ich lebe mit einer occipito-atlanto-axialen Instabilität und subaxialen zervikalen Instabilitäten in Folge eines Ehlers-Danlos Syndroms und daraus resultierender inkompletter hoher Tetraplegie; in Korrelation zu mechanischen Faktoren sowie Fehlstellungen der Wirbel kommt es zusätzlich zu meiner Baseline zu einer Zunahme der zervikomedullären Symptomatik. Zu Beginn der inkompletten hohen Tetraplegie (und immer wieder in Akutsituationen) war meine zentrale Atmung und die Regulation von Blutdruck, Puls und Körpertemperatur betroffen. Da Ärzte damals ratlos waren und Symptome auf die Psyche geschoben (und nicht dokumentiert) haben, habe ich die Situation alleine zu Hause ausgesessen und bin bis heute dankbar, dass ich das überlebt habe - ich denke, das ist nicht selbstverständlich.
Lange Zeit war ich auf der Suche nach jemandem, der bereit ist, eine Versteifungs-OP vorzunehmen. Da die meisten meiner Symptome jedoch nicht von ärztlicher Seite objektiviert und dokumentiert waren (Bias lässt grüßen - niemand hat sich die Mühe gemacht) und mein EDS damals noch nicht diagnostiziert war, wurde ich jedoch wiederholt abgewiesen: Knochen seien nicht gebrochen, Bänder nicht gerissen, also sei eine Instabilität anatomisch unmöglich (was bei hereditären Bindegewebserkrankungen nicht stimmt), und überhaupt würde so eine OP nur durchgeführt werden, wenn es gefährlich sei, nicht zu operieren, nicht, um die Lebensqualität zu erhalten oder zu verbessern.
Inzwischen ist mein Verständnis, dass das Thema zu wenig erforscht ist und dringend mehr Forschung braucht. Wenn das Outcome einer kraniozervikalen Versteifungs-OP bei vielen Ärzten so schlecht ist, dass die OP als nicht geeignet angesehen wird, um das Fortschreiten von Lähmungen aufzuhalten und nur im akuten lebensbedrohlichen Notfall eingesetzt wird, dann braucht es mehr Forschung, nicht ein Ächten dieser OP. Und eigentlich gibt es inzwischen sehr gute Ansätze, das Thema besser zu verstehen, z.B. biomechanische Überlegungen (s. Henderson FC mit Publikationen zum kraniozervikalen Winkel) und das Erkennen von Komorbiditäten (wie z.B. hereditären Bindegewebserkrankungen und damit einhergehenden Risikofaktoren, die ein spezielles Management benötigen).
Zu Ihrer Frage: "Und was soll man tun, wenn ein funktioneller Patient eine Operation fordert?" würde ich mit Blick auf meine Vorgeschichte sagen: Ich glaube, was mir geholfen hätte wäre, wenn mir jemand erklärt hätte: "Das ist leider noch nicht gut erforscht und verstanden. Grade bei Patienten wie Ihnen wissen wir nicht, ob diese OP ein gutes Ergebnis bringt; so, wie wir die OP durchführen, sind die Ergebnisse leider oft nicht so, wie wir das erhofft haben. Deshalb sind wir zurückhaltend damit, diese OP anzubieten. Aber es ist uns ein Anliegen, das Thema mehr zu erforschen und zu verstehen, und wir arbeiten daran. Behalten Sie Forschungsgruppe XYZ im Auge; die arbeiten an dem Thema. Das kann bedeuten, dass Sie auf Zeit spielen müssen, und das tut mir leid. Lassen Sie uns zusammen überlegen, wie Sie ein Fortschreiten der Symptome möglichst verlangsamen können, bis die Forschung weiter ist, und lassen Sie uns in Kontakt bleiben. Ich begleite Sie gerne weiter auf diesem Weg".
Die Praxis sieht leider oft so aus, dass man als Patient mit den Symptomen alleine gelassen wird, wenn Ärzte keine Lösungen anbieten können. Dabei sind Symptome, die noch nicht gut erforscht und verstanden sind, nicht einfacher zu managen als gut verstandene Symptome, und eigentlich wäre das gerade ein Bereich, an dem es so wichtig wäre, dass ein Wissenstransfer in beide Richtungen stattfindet und wo Ärzte und Patienten so viel voneinander lernen könnten.
Zu Outliern und einem Ansatz in der Medizin, der für so viele Patienten einen positiven Unterschied machen könnten, gibt es übrigens einen tollen TED-Talk von einem Arzt:
Noch ein kurzer Nachgedanke zum Schluss: Was meiner Meinung nach bislang noch wenig Beachtung findet ist ein anderer Aspekt dieses Bias, im Zweifel nicht aktiv zu werden: Es macht für die Handlungsfähigkeit, die agency, die Autonomie, die Selbstwirksamkeitserwartung des Patienten einen Unterschied, ob ein Arzt Optionen anbietet oder nicht. Wenn ein Arzt keine Optionen anbietet, wird dem Patient die Möglichkeit genommen, selber Entscheidungen zu treffen über sein eigenes Leben und seine eigene Gesundheit. Als Patient kann man sich in einer solchen Situation sehr hilflos fühlen - das fühlt sich ganz anders an, als wenn ein Arzt einen auf Augenhöhe einbezieht und Arzt und Patient zusammen zu dem Schluss kommen, dass eine OP aus diesen und jenen Gründen im Moment nicht sinnvoll und erfolgsversprechend ist. Ein paar der Gefühle und Fragen, an die ich mich aus dieser Zeit erinnere, sind: "Warum denkt der Arzt, dass ich es nicht wert bin, Hilfe zu bekommen?", "Warum wird die Ernsthaftigkeit meiner Symptome nicht gesehen? Warum denkt der Arzt, dass ich nicht glaubwürdig bin, übertreibe, wehleidig bin? Warum denkt der Arzt so schlecht von mir - Dinge, die diametral zu meinen Werten sind?". Das sind wirklich Fragen, die an die Substanz gehen und zutiefst verunsichernd sind.
Ich schätze diesen Austausch sehr - danke dafür!
Liebe Grüße,
odyssita