Hallo miteinander,
die Frage, ob Rückenmarksverletzungen in der Neurologie vernachlässigt werden, beschäftigt mich ja immer wieder. Meine Erfahrung ist, dass Neurologen sich vor allem für Hirn und periphere Nerven verantwortlich fühlen (wobei auch der Hirnstamm wenig Beachtung bekommt) und im Bereich des Rückenmarks noch für ein paar spezifische Krankheitsbilder mit klar definierter Diagnostik, aber dass vor allem für inkomplette Rückenmarksverletzungen sehr wenig Bewusstsein besteht. Da heisst es schnell, so komplexe Symptome "könnten nicht sein", wenn es nicht MS sei könne es nur psychogen sein, da sei weitere Diagnostik nur unnötig teuer und würde die Patienten nur unnötig verunsichern.
Ich habe inzwischen sehr viele Erfahrungsberichte von Patienten gelesen, bei denen es dadurch zu markant verzögerter Diagnosestellung kam - mal ganz davon abgesehen, wie psychisch belastend es ist, mit ernsthaften medizinischen Problemen keine angemessene ärztliche Hilfe zu bekommen und mit der eigenen Körperwahrnehmung nicht ernst genommen zu werden, sondern so behandelt zu werden, als würde man die Beschwerden irgendwie selber auslösen und sei nicht kompetent genug, dies selber zu erkennen und zu beeinflussen.
Nun frage ich mich ja schon eine Weile, warum das so ist. Aktuell habe ich das Programm eines großen deutschsprachigen Neurologenkongresses gesehen (unter folgendem Link startet direkt der Download):
Download Programm Kongress DGN
Wie schon beim vorherigen Kongress finden sich unter den vielen, vielen Vorträgen des mehrtägigen Kongresses nahezu keine Vorträge, die sich mit Rückenmarksverletzungen befassen. Dagegen gibt es viele Vorträge zu psychogenen Störungen.
Mich erschreckt das sehr - denn natürlich werden Ärzte in erster Linie das diagnostizieren, womit sie vertraut sind. An das, womit man nicht vertraut ist, denkt man nicht, man erkennt es nicht. Und je häufiger man meint, ein bestimmtes Muster erkannt zu haben (oh, so komplexe Symptome - das habe ich schon mal gesehen, das habe ich als psychogen diagnostiziert), desto mehr verfestigt sich diese Wahrnehmung. Und Patienten, die nicht korrekt diagnostiziert sind, verzerren wiederum das Bild, wenn es um Fallzahlen und die Verteilung von Geldern für Behandlung und Forschung geht.
Nun gibt es im Bereich Rückenmarksverletzungen so viel Wissen, so viel Erfahrung, so viel gute Forschung. Aber warum, bitte, kommt dieses Wissen nicht in der Neurologie an? Warum werden dazu fast keine Vorträge auf Neurologenkongressen gehalten?
Ich hatte mich ja schon einmal gefragt, ob Zentren für Paraplegie "Gated Communities" sind. Es ist toll, wieviel Wissen es bei spezialisierten Ärzten gibt. Aber bitte, bitte: Dieses Wissen darf kein Nischenwissen sein, sondern es muss in der breiten Masse der Neurologen ankommen!
Meine Hoffnung und Bitte ist, dass sich das in der Zukunft ändert. Patienten leiden unnötig unter Fehldiagnosen und verzögerter Diagnosestellung. Ich sehe auch und ganz besonders die DMGP in der Verantwortung, daran etwas zu ändern und das Wissen in die weite Welt der Neurologie hinaus zu tragen.
Lieber Johannes, Du kannst diese Nachricht gerne weiterleiten. Über ein Feedback würde ich mich freuen.
Viele Grüße,
odyssita