Lieber Michael4WD, liebe Alle,
Zuerst einmal möchte ich mich herzlich bedanken für die breite und wichtige Diskussion hier. Es ist unsere Stärke, dass Betroffene und Medizinier zusammen an wichtigen Themen im Zusammenhang mit Lähmung arbeiten und uns austauschen. So werden wir alle klüger, auch ich lerne noch immer viel.
In Deiner Post sprichts Du mehrere wichtige Aspekte der Spastikbehandlung an:
Als erstes möchte ich mich zur Behandlung äussern. Hier haben wir grundsätzlich medikamentöse Therapien und physikalische Massnahmen. Die Liste an Medikamenten ist überblickbar. In der Schweiz wird vorwiegend Baclofen eingesetzt und Tizanidin. Beide wirken an etwas unterschiedlicher Stelle und manche Patienten reagieren besser auf das eine oder andere Medikament. Die Nachteile dieser Medikamentengruppe sind, dass sie grundsätzlich im ganzen Körper wirken und auch nicht spastische Muskeln gleichermassen schwächen wie spastische. Ebenso führen sie oft zu Müdigkeit oder Konzentrationsstörungen. Tizanidin setzen wir seltener ein als Baclofen, vor allem weil wir eine Wechselwirkung mit dem oft verordneten Antibiotikum Ciprofloxacin fürchten. Es wurde ein Todesfall weltweit damit in Zusammenhang gebracht. Die Patienten müssen das wissen, da einige Hausärzte Ciprofloxacin fast routinemässig zB bei Harnwegsinfekt einsetzen. Baclofen hat zudem den Vorteil, dass es auch mittels einer Pumpe direkt an das Rückenmark gebracht werden kann in schweren Fällen. Ein Vorteil von Tizanidin ist, dass es Präparate mit verzögerter Freisetzung gibt, was bei morgendlicher Spastik hilfreich sein kann. Falls nur einzelne wenige Muskeln betroffen sind, kann auch eine Therapie mit Botox helfen.
Spastik kann sich verschlimmern durch zahlreiche Auslöser. Alles was zu einer Reizung des Nervensystems führt, kann Spastik verschlimmern oder sogar auslösen. Das kann von Frakturen über Infektionen bis hin zu degenerativen Veränderungen wie Arthrosen oder Diskushernien gehen. Manchmal besteht eine Spastiktherapie darin, diese Auslöser zu finden und zu behandeln.
Nicht zu unterschätzen sind die physikalischen Massnahmen. Hierzu gehören nicht nur Entspannungs- und Dehnungsübungen, sondern auch Wassertherapie oder Sauna können die übererregten Reflexkreise beruhigen und manchmal zu einer verminderten Spastik über einige Tage führen. Fachkundige Physiotherapie ist ebenfalls wichtig. Die Gelenke sollen beweglich gehalten werden und Muskelverkürzungen verhindert werden. Bei einigen Patienten hilft auch eine Anpassung der Sitzposition oder spezielle Lagerungen im Bett.
Wer den Post bis hier gelesen hat, kann leicht den Eindruck bekommen, dass Spastik eine Krankheit ist, die unbedingt behandelt werden muss. Das ist aber keinesfalls so. Spastik hat auch viele Vorteile: Es erhält die Muskelmasse und stabilisiert damit den Stoffwechsel und Kreislauf. Einige Patienten nutzen ihre Beinspastik auch, um zu transferieren. Du berichtest sehr eindrücklich, dass Spastik Dich sogar "auf den Beinen gehalten hat". Die Kunst besteht darin, die Spastik nur so stark zu behandeln, dass sie im Alltag nicht mehr behindert. Zeigt ein Patienzt zum Beispiel nur am Morgen für 10 Minuten Spastik und danach nicht mehr, dann rate ich dazu, dass er sich diese Zeit nimmt und nicht die Medikamente erhöht. Behandelt werden muss die Spastik, wenn sie im Alltag zu starken Einschränkungen führt oder wenn z.B Stürze aus dem Rollstuhl drohen. Mir ist nicht klar, welche Folgeschäden Dein Arzt befürchtet, wenn man Deine Spastik nicht stärker behandelt. Vielleicht kannst Du ihn fragen. Allen Spastikmedikamenten ist gemeinsam, dass die Wirkung nach einiger Zeit oft nachlässt. Ich behandle deshalb immer so wenig wie möglich.
Spastikbehandlung ist immer eine sehr individuelle Therapie, die den Alltag, die Hilfsmittel und die Bedürfnisse des Einzelnen berücksichtigen muss. Weil die Behandlung fast immer nicht nur aus Medikamenten besteht sondern auch aus Therapien und Anpassungen im Alltag, sollte die Behandlung interprofessionell durch ein Team aus Therapeuten und Ärzten geführt werden.
Ich hoffe, Dir einige Hinweise gegeben zu haben und wünsche Dir weiterhin ein gutes Leben mit Unabhängigkeit und viel Freude. Der Weg dazu muss immer wieder neu geprüft und diskutiert werden. Ich würde mich freuen, wenn Du hier weitere Erfahrungen machen und auch eigene Ideen weitergeben würdest.
Herzliche Grüsse und gute Gesundheit an Alle!
Euer Dr. JEAN