Lieber Salieri!
Vielen Dank für Deine interessante Story. So wie Dir geht es noch manchem Querschnittgelähmten mit Restfunktionen. Ich habe schon ähnliche Geschichten gehört und darüber diskutiert. Eine generell gültige Antwort dazu gibt es aber wahrscheinlich nicht. Ich versuche weiter unten einige Aspekte dieses Problems zu erklären, die Forschung und damit auch die Literatur auf diesem Gebiet ist aber ziemlich spärlich.
Patienten mit Restfunktionen, die gerade an der Grenze der Gehfähigkeit sind, überfordern oft ihre Muskeln und auch ihre Gelenke und Bänder. Sie wollen sich unbedingt von den Rollstuhlfahrern abheben und beweisen, dass sie in der Lage sind, zu stehen und einige Schritte zu gehen. Sie werden dabei von Angehörigen motiviert, die kein Verständnis für die biomechanischen Belastungen haben, die z.B. an den Knien entstehen, wenn man diese statt mit Muskelkraft durch Überstrecken und „Stehen in den Bändern“ stabilisiert. Es kommt zu Überdehnung diese Bänder und der Gelenkkapseln und zur Überbelastung der Knorpeloberfläche des Gelenks mit entsprechenden Gelenksergüssen. Spätschäden werden vom Betroffenen völlig ausgeblendet, er will nichts davon wissen, er will nur beweisen, dass er gehfähig ist.
Selbsternannte Scharlatane, wie z. B. der zweite von Dir genannte Namen, missionieren mit ihrer eigenen Überschätzung der funktionellen Möglichkeiten und stiften andere Patienten an, es ihnen gleich zu tun, ohne Rücksicht auf deren soziale und familiäre Situation, nur um sich egoman im Fernsehen medial zu profilieren.
Muskeln lassen sich nur trainieren, wenn sich innerviert sind. Muskeln brauchen die Innervation durch die alpha-Motoneurone im Rückenmark als sogenannten „trophischen Faktor“, der ihnen das Überleben ermöglicht. Muskeln die diese Innervation verloren haben, sind schlaff gelähmt und atrophieren innert Tagen und Wochen.
Damit man die Muskeln auch willentlich bewegen kann, müssen (1) die Alpha Motoneurone überlebt haben und (2) muss das Gehirn die Kontrolle über die alpha-Motoneuronen haben. Oberhalb der Rückenmarksverletzung ist das kein Problem. Hier funktionieren die Muskeln normal. Unterhalb der Verletzung geht diese Kontrolle bei einer Rückenmarksverletzung oft ganz oder manchmal auch nur teilweise verloren.
Alpha-Motoneurone, bei denen die Kontrolle ganz verloren gegangen ist, entwickeln unwillkürliche Eigenaktivitäten, die sogenannte Spastik. (siehe auch
https://community.paraplegie.ch/t5/K%C3%B6rper-Komplikationen/Spastik-bei-Querschnittl%C3%A4hmung/ta-p/1699)
Die Muskeln sind in der Lage sich zu bewegen, die Bewegungen folgen aber nicht unserem Willen sondern werden durch verschiedene innere und äussere Reize ausgelöst. Die Muskeln sind aber innerviert und atrophieren (schwinden) dadurch nicht.
Die noch willkürlich (willentlich) innervierten Muskeln (oder manchmal auch nur Teile von Muskelgruppen) unterhalb der Rückenmarksverletzung lassen sich trainieren und zeigen durch das Training auch mehr Kraft. Sie können hypertrophieren (voluminöser und kräftiger werden als normal). Damit können sie die nicht mehr innervierte Muskulatur teilweise oder manchmal auch ganz kompensieren. Es ist dadurch für gewisse Patienten möglich, wieder zu stehen oder mit Hilfsmitteln (Schienen, Krücken etc.) zu gehen. Damit die Muskeln in diesem Zustand bleiben, braucht es tägliches intensives Training, für das wir aber oft nicht genügend Zeit finden. Ohne dies fällt die Muskelmasse wieder auf das normale Mass zurück.
Was wir nicht genau wissen, ist, wie die Vernarbungsprozesse nach einer Verletzung im Rückenmark die noch vorhandene Muskelinnervation und die Spastik beeinflussen. Monate und auch Jahre nach einer Rückenmarkverletzung schreitet dieses Geschehen weiter fort und bringt ab und zu neue Symptome zum Vorschein, nicht immer nur positive. Die Bereiche mit fehlendem Gefühl dehnen sich aus, Spastik kann entstehen oder sich verstärken und die Bewegungsfähigkeit einschränken, die Lähmung kann sich weiter ausbreiten, Muskeln werden schwächer, eventuell entstehen neuropathische Schmerzen und vieles mehr. Ebenfalls werden wir alle älter (und schwerer) und auch dadurch nimmt die Leistungsfähigkeit der Muskulatur generell ab.
Wenn sich die Lähmung zunehmend nach oben (Richtung Kopf) ausdehnt und vorher funktionierende Muskeln plötzlich gelähmt sind, ist dies ein Alarmzeichen, das genauerer Abklärung bedarf. Die Ursachen sind eventuell behandelbare Prozesse im Rückenmark, die diese klinische Verschlechterung hervorrufen. Möglich wären eine Syringomyelie, Blutungen oder Durchblutungsstörungen im Rückenmark, oder auch Tumoren bzw. Metastasen. Eine Untersuchung mittels MRI kann eine solche gefährliche Pathologie ausschliessen. Eine Syringomyelie beginnt häufig am Ort der Verletzung des Rückenmarks, wahrscheinlich durch eine Störung des Liquorflusses rund um das Rückenmark. Das Fortschreiten der Syringomyelie kann heute durch eine neurochirurgische Intervention unterbrochen werden.
Einige dieser Mechanismen erklären vielleicht die Veränderungen, die Du über die lange Zeit als querschnittgelähmter Patient beobachtet hast. Für andere haben wir heute noch keine plausiblen Erklärungen. Meine persönliche Empfehlung zur Erhaltung der körperlichen Leistung wäre: regelmässiges moderates körperliches Training, ohne bodybuilderische Ambitionen. Danach auch regelmässiges Dehnen (Stretching) zur Erhaltung des Bewegungsumfangs der Gelenke. Dehnen reduziert die Spastik. Dabei muss man aber bedenken, dass Dehnen auch die maximale erreichbare Muskelkraft leicht reduziert. Keine übermässig langen Gehstrecken überwinden wollen, aufhören, wenn die Muskeln nicht mehr mögen, zum Schutz der Gelenke, Bänder und des Gelenkknorpels.
Eine Alternative ist das Tragen von Gehapparaten, die den Bewegungsumfang begrenzen und einen Teil des Körpergewichts ableiten. Bei unseren Patienten sind diese aber nicht so beliebt, weil umständlich anzuziehen und zu bedienen.
Die Zukunft wird zeigen, was von den Exoskeletten zu erwarten ist, die in solchen Situationen wahrscheinlich die beste Lösung wären.
Soviel für dieses Weekend! Ich bin gespannt, wer sich zu diesem Thema auch noch äussern möchte und seine Erfahrungen und Ratschläge einfliessen lässt.
Es grüsst Euch:
Dr_Hans, 2.3.2018