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  1. robert_old Kein Ranking
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  3. Freitag, 23. Dezember 2016
Dummes Gehirn oder richtige Falschmeldung?
2016 ereilt uns die Kälte früher als in den letzten Jahren. Temperaturen von weniger als fünf Grad Celsius, das ist für mich Kälte. Zurzeit bewegen wir uns um Null. Es ist also kalt. Bin ich abends zu lange draussen oder in einem nur schwach beheizten Raum, so unterkühle ich mich und meinen von Tetraplegie gequälten Körper. Wen wundert's!
Mich wundert aber, dass das die ganze Nacht so weitergeht. Der Körper hat sich längst wieder aufgewärmt, aber es friert mich. Ich schlafe noch schlechter als an andern Tagen und ich träume, wie es mich vor Kälte schaudert.
Das Gefühl von Frösteln geht weg, sobald ich morgens zerknirscht aus dem Bett steige. Das Gehirn hat die Unterkühlung also abgespeichert und lässt sie als Dauermeldung die ganze Nacht blinken. Irgendwie so entstehen wohl auch die Phantomschmerzen, über die sich so viele beklagen.
Wie – so frage ich – bringe ich mein Gehirn dazu, so klug wie meine längst aufgewärmten Beine und Füsse zu sein?
Sven23_old Kein Ranking
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Hallo Robert,
ich kühle auch immer schnell aus, daher ziehe ich mich besonders dick an. Allerdings reicht das bei den aktuellen Temperaturen kaum aus. Ich überlege es mir also doppelt und dreifach, ob ich überhaupt rausgehe. Oft ist es mir innendrin schon zu kalt. Und wenn ich einmal richtig kalt bin, friere ich auch im Bett und schlafe schlecht.
Wußtest Du, dass es beheizbare Socken und Schals gibt? Z.B. bei pearls.de
  1. vor über einem Monat
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  3. # 1 1
robert_old Kein Ranking
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Lieber Sven23
Ich schaue mir das gleich an. Danke für den Tipp.
Wärmere Kleidung müsste ich aber einsetzen, um einer Unterkühlung entgegenzuwirken. Der Witz ist ja, dass mein Gehirn im Unterkühlungsmodus bleibt, auch wenn sich der Körper unter einer dicken Daunendecke längst wieder aufgewärmt hat.
Inzwischen ist der Leidensdruck auch so geworden, dass ich die dickeren Odlo-Shirts aus dem Schrank geholt habe und darüber trage ich eine Art Schlüttchen von Mammut. Das hilft schon sehr - sexy sind diese Kleidungsstücke allerdings gar nicht.
Ich hoffe auf bessere Zeiten!
  1. vor über einem Monat
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  3. # 1 2
Dr._Hans_old
Dr. Online
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Hallo Robert!
Die Kältewelle bricht momentan nicht ab, schon über 14 Eistage hintereinander hier in der Schweiz und die Aussichten sind nicht besser.
Die von Dir geschilderten Gefühle höre ich von verschiedenen anderen Tetraplegikern in ähnlicher Weise. Ein kaufmännischer Angestellter (und hoher Tetraplegiker) erzählte mir, dass er mit seinem Auto in solchen Situationen auf dem Heimweg eine „Extrarunde" mit voll aufgedrehter Heizung fährt, um seinen Körper nach einem Arbeitstag wieder aufzuwärmen und nicht den ganzen Abend zu Hause zu frieren.
Die gestörte Temperaturregulation ist ja ein bekanntes Phänomen bei Querschnittgelähmten und entsteht durch den Ausfall des autonomen Nervensystems. Sie ist bei Lähmungen oberhalb Th6 ausgeprägter als unterhalb, je höher gelähmt, desto schlimmer. Es gibt aber keinen generellen Ansatz um dem Problem beizukommen. Von wärmer anziehen bis zu heizbaren Kleidungsstücken wird alles diskutiert. Von Frostschäden and den Zehen bis zu Verbrennungen durch heizbare Socken habe ich bei meinen Patienten auch alles gesehen, was schief gehen kann. Darum immer mit etwas Vernunft an die Sachen herangehen und die möglichen Gefahren erkennen.
Durch den fehlenden Gefässtonus (den das autonome System normalerweise erzeugt) haben die Arterien einen zu grossen Querschnitt und deshalb fliesst zu viel Blut in die Peripherie, der Blutfluss kann nicht mehr gedrosselt werden. Dabei nimmt das Blut Wärme aus dem Rupf mit in die Extremitäten, wo es abkühlt und mit reduzierter Temperatur dem Körper über die Venen wieder zugeführt wird. Dies führt zu einem konstanten Wärmeverlust und erhöhtem Energieverbrauch, da der Körper versucht die Körpertemperatur konstant zu halten. Er ist aber nicht mehr in der Lage den Kreislauf durch ausschütten von Stresshormonen (Noradrenalin) zu zentralisieren (quasi die Extremitäten abzuschalten).
Bereits 1958 hat Ludwig Guttmann (J. Physiol. 142, 406-419) Versuche beschreiben, mit denen er die Temperaturregulation bei verschiedenen Lähmungshöhen untersucht hat.
Im Extremfall versucht dies der Gesunde mit Muskelzittern (Frieren, Schlottern) zu kompensieren, denn dies führt zu erhöhter Abwärme der Muskeln. Der Energieverbrauch steigt dabei auf das zwei bis dreifache. Muskelzittern ist bei Tetraplegikern aufgrund der motorischen Lähmung aber nicht mehr möglich.
Man sollte also vor allem versuchen die Arme und Beine besser zu isolieren, damit der Wärmeverlust in den Extremitäten eingeschränkt werden kann. Eine warme Kappe hilft nur bedingt, da hier nur ca. 10% der Körperwärme verloren geht. Bei Babys ist das anders, der Kopf ist proportional zum Körper viel grösser, darum legt man denen ein Käppchen an um sie warm zu halten. Mein Grossvater (ein eingefleischter Landwirt) sagte jedoch immer: „Leg ä Tschäppel a, denn hesch warm."
Bei einer Querschnittlähmung fehlen neben der Funktion des autonomen Systems auch die Inputs (zuführende Signale aus dem gelähmten Körper), für die Temperaturregulation und damit die Rückkopplung der Regelgrösse des (Temperatur-)Regelkreises.
Ich denke, es hat nicht nur mit der Temperatur alleine zu tun, es kommt mit dem täglichen Stress auch eine allgemeine körperliche Erschöpfung dazu, die man bei nicht gelähmten Personen ebenfalls beobachten kann. Wenn die „Batterien" leer sind, hilft auch eine Wärmeflasche (bei Querschnittgelähmten verboten!!) beim Zubettgehen nicht vor dem Schlottern. Es fehlt dem Körper schlicht die nötige Energie. Man sagt nicht vergebens „Kalt bis auf die Knochen"
Der römische Schriftsteller Vergil (Virgilius) meinte schon: „Vere calor redit ossibus." (Im Frühling kehrt die Wärme in die Knochen zurück).
Die Thermoregulation unterliegt einem komplexen Zusammenspiel von Kerntemperatur des Körpers (und deren zirkadianen Schwankungen), Blutfluss durch die Haut Umgebungstemperatur und Feuchtigkeit, Dicke des Unterhautfettgewebes, Dicke der Haut und verschiedenen Mechanismen von Wärmeleitung und Konvektion im und am Körper.
Die Temperaturregulation findet im Hypothalamus (einem Teil des Zwischenhirns) statt (Nucleus präopticus). Neben der oben geschilderten (nicht mehr funktionierenden) Regulation der Blutgefässe über das autonome Nervensystem, hat das Wärmeregulationszentrum auch einen Einfluss auf die Hypophyse, und kann auf diesem Weg die Ausschüttung von Schilddrüsenhormon anregen, was wiederum den Körperstoffwechsel erhöht und die Körpertemperatur steigern würde. Wahrscheinlich funktioniert das bei hohen Querschnittgelähmten auch nicht mehr, weil die Inputs vom Körper fehlen. (wie oben beschrieben)
Somit hast Du in einem bestimmten Sinne recht, dass das Hirn wesentlich bei der Temperaturempfindung und Temperaturregulation beteiligt ist, und die roten Lampen vielleicht länger blinken als dass die Temperatur zu niedrig ist. Der Regelkreis reagiert verzögert.
Medikamente wie Antispastika (z. B. Baclofen), Schmerzmittel (Opiate) und Sedativa führen alle zu tendenziell niedriger Körpertemperatur. Oft können die Patienten darauf aber nicht verzichten. Auch Alkohol hat in dieser Beziehung einen negativen Effekt. Man kauft sich mit diesen Substanzen möglicherweise unangenehme Nebenwirkungen ein.
Das löst zwar Dein Problem nicht grundlegend, ich hoffe, es tröstet Dich aber etwas. Wenn man versteht warum, ist es einfacher zu ertragen und man kann besser agieren und reagieren. Weitere Forschung ist sicher notwendig. Warten wir also auf den Frühling!
Es grüsst Dich
Dr._Hans, 23.1.2017
  1. vor über einem Monat
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  3. # 1 3
robert_old Kein Ranking
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Danke, lieber Dr. Hans, für die ausführliche Antwort. Das Gehirn reagiert mit Verzögerung. Das bestätigst du. Ich mache aktuell die Erfahrung, dass Massnahmen wie die Extrarunde im bewusst überheizten Auto, das zusätzliche Aktivieren eines Raclette-Ofens oder das Vorheizen des Betts sehr hiflreich sind. In andern Worten: Das Schaffen von aufdringlicher Wärme, die man normalerweise als unangenehm empfinden würde, trägt dazu bei, das Gehirn zu überlisten und das Kältegefühl zu neutralisieren. Wir verwenden dazu kleine Heizkissen gefüllt mit Kirschensteinen. Die wärmen wir im Mikrowellenofen und legen sie dann ins Bett. Dort bleiben sie die ganze Nacht. Nach unserer Auffassung sind diese Kissen risikolos, zumal sie nach etwa zwei Stunden nur noch Restwärme haben. Sie entsprechen Grossmutters Bettflasche und sind wesentlich wirksamer als Grossvaters "Tschäppel". Ich räume ein, dass ich am ganzen Körper Sensibilität habe, Kälte aber nur indirekt spüre.
Fazit: Abends gehe ich nach ein, zwei Glas Rotwein zum Wärmekissen im Bett. Ebenso meine liebe Frau. Tagsüber trage ich jetzt die dickeren Shirts von Odlo und darüber Mammut - eine Art Mönchs-Kutte. Manchmal lege ich mir ein Wärmekissen auf den Schoss. Das hilft, die gröbste Not zu lindern. Ich schätze, diese Wärmekissen haben zwischen 40 und 50 Grad, wenn sie aus dem Ofen kommen.
  1. vor über einem Monat
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  3. # 1 4
Sven23_old Kein Ranking
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Mir geht es nach einem Schlückchen Rotwein auch besser. Das geht natürlich nicht alle Tage. Und sich an einer Frau aufzuwärmen, lieber Robert, ist eigentlich eine gute Idee. Ich muß mal mit meiner Krankenkasse darüber reden! ;-)
Sehr geehrter Herr Dr. Hans, Sie sind der kompetenteste und empathischste Arzt, der mir jemals im Zusammenhang mit dem Thema Querschnittlähmung begegnet ist und obwohl ich schon einiges zu dem Thema gelesen habe, verblüffen Sie mich immer wieder mit Ihrem Fachwissen. Ich wünschte mir sehr, Sie wären mein behandelnder Arzt! Auch bin ich sehr froh, hier auf das Forum gestoßen zu sein!!!
P.s. Gut, dass Dr. Hans auf die Gefahren der beheizbaren Socken hingewiesen hat. Ich hatte Robert ja den Tip dazu gegeben. Beim Nachlesen der Bedienungsanleitung steht auch drauf, dass sie heiß werden können. Also lieber Finger weg.
  1. vor über einem Monat
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  3. # 1 5
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