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Gesellschaft

Sind wir Adlige?

Wenn Stars verunfallen, ist der Rummel gross. Die Sportlerin Kristina Vogel ist das jüngste Beispiel.

Wenn Stars verunfallen, ist der Rummel gross. Die Sportlerin Kristina Vogel ist das jüngste Beispiel.

Wer in der «Regenbogenpresse» erscheint, gilt als prominent.

Zum Frisör gehe ich immer zu früh, um noch im Stapel an einschlägigen Zeitschriften stöbern zu können. Beim letzten Mal zückte ich mir die Gala. Dieses Herzensblatt verspricht, mir alles über die Prominenz, namentlich den europäischen Hochadel, zu berichten. Ich blättere es durch, und auf Seite 88 stosse ich zu meiner Überraschung auf eine junge Rollstuhlfahrerin: Kristina Vogel. Nicht «von Vogel» und schon gar nicht «Prinzessin von und zu Vogel», sondern einfach Kristina Vogel. In der Reha besuchte sie die Redaktionsleiterin von Gala. Im Interview erfahre ich, dass sie sich als Radrennfahrerin eine Querschnittlähmung zugezogen hat.

Die Spitzensportlerin Kristina Vogel verunfallte am 26. Juni 2018. Seither ist der Rummel um sie grösser denn je.

Frisch frisiert, verfolge ich die Geschichte zu Hause weiter: Die 1990 geborene Kristina begeistert sich schon mit zehn Jahren für den Radsport. 2005, also fünf Jahre später, wechselt sie zum sogenannten Bahnradsport und radelt schnell an viele Spitzen. Sie wird zweifache Olympiasiegerin und holt sich elf Mal den Weltmeistertitel. Am 26. Juni 2018 kollidiert sie auf der Bahn bei 60 Stundenkilometern mit einem niederländischen Nachwuchssportler. Die Fraktur des ersten Halswirbels (C1) bleibt zum Glück folgenlos, die des siebten Brustwirbels (Th7) indessen nicht. Ihr Rückenmark ist auf dieser Höhe komplett durchtrennt. Sie kommt in die Reha. Dort ist es, berichtet sie vielsagend, «ein bisschen wie früher in der Sportschule». Gegen Ende des Jahres 2018 kann sie die Klinik als Paraplegikerin im Rollstuhl verlassen.

Kristina stellt sich dem Leben im Rollstuhl wie vorher den sportlichen Anforderungen.

Als Spitzensportlerin und vielfache Medaillenträgerin gehörte sie seit den olympischen Spielen 2012 in London zu den Superstars in der Sportwelt. Der folgenreiche Unfall Mitte letzten Jahres liess sie noch prominenter werden, beförderte sie gewissermassen in den Adelsstand. Dort interessieren sich nicht nur sportfokussierte Medien für sie. Hochstehende Tageszeitung, Redaktionsteams spezieller Fernsehsendungen und von Fachzeitschriften, die Regenbogenpresse bis hin zur Gala – plötzlich wenden sich ihr alle zu. Geld wird für sie gesammelt, damit sie ihr Haus umbauen kann. Die grosse Anteilnahme überwältigt sie. Am 16. Dezember 2018 erhält sie an der 1947 begründeten Gala zum Sportler des Jahres Platz zwei. Kristina Vogel ist in aller Munde. Sogar ich, der sich gar nicht für Sport interessiert, weiss nun, wer sie ist.

Auch Silvano Beltrametti war nach seinem Unfall (2001) in allen Medien.

Vergleichbares haben vor ihr andere Stars erlebt, so etwa der 2001 gestürzte Skirennfahrer Silvano Beltrametti, der 2010 in der Fernsehsendung Wetten, dass..? gestrauchelte Kunstturner Samuel Koch oder die 2015 verunfallte Stabhochspringerin Kira Grünberg. Ihr Schicksal, das Opfer, das sie gebracht haben, zieht alle in den Bann, erzeugt indessen auch Druck. Ihm stellt sich Kristina bislang kämpferisch, aber auch besonnen, wie es das Publikum von Spitzensportlern erwartet. Aussagen wie «Ich muss nichts mehr beweisen», «Nicht verlorenen Chancen hinterhertrauern» oder «Es so nehmen, wie es ist» belegen das.

Mich nimmt Wunder, wie das alles bei euch ankommt. Hier drei Links zu Kristina Vogel in ihrem neuen Dasein:

  • ZDFsport vom 15. Dezember 2018, das aktuelle Sportstudio:

  • ZDF vom 16. Dezember 2018: Die Gala zum Sportler des Jahres, Kristina Vogel erhält Platz zwei:

Vergleicht, was ihr da zu sehen bekommt, mit dem, was ihr selbst erlebt habt. Ich behaupte, im Kleinen ist es vielen von uns ergangen wie Kristina und ihren Vorgängern. Unsere Unfälle lösen Betroffenheit aus. Unsere Mitmenschen nehmen sehr Anteil, lassen sich von unserem Schicksal vereinnahmen, während wir uns einfach stellen – stellen müssen. Das bewundern die Menschen, und sie antworten mit Wohlwollen. Der Rollstuhl kennzeichnet uns, und zwar durchaus vorteilhaft wie ein Adelstitel, fast wie eine Krone.

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