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Reto, der Rollstuhl-Designer (Teil 2)

Wir testen Reagiro, den manuellen Rollstuhl mit Rückensteuerung

Wir testen Reagiro, den manuellen Rollstuhl mit Rückensteuerung

Meine allererste Rollstuhlfahrt, bei der ich noch sehr auf beide Hände angewiesen bin, um den Reagiro zu bedienen.

Wer mag es nicht, das Gefühl von Freiheit? Ein befreundeter Rollstuhlfahrer erzählte Reto von seiner Vision, den Rollstuhl ähnlich wie ein Skateboard steuern zu können – und inspirierte so die Entwicklung des Reagiro, des manuellen Rollstuhls, der sich über die Rückenlehne steuern lässt.

Finden wir mehr über diesen einzigartigen Rollstuhl heraus!

In Teil 1 dieser Blogreihe habt Ihr erfahren, wie das Community-Team den Rollstuhl-Designer Reto Togni (retogni) kennengelernt und schliesslich am Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil getroffen hat.

Reto brachte den Prototypen des Reagiro bei seinem Besuch mit. Johannes und ich hatten die Ehre, den weltweit ersten manuellen Rollstuhl mit Steuerung über die Rückenlehne testen zu können. Wie es sich angefühlt hat?

Meine Testfahrt mit dem Reagiro

Tatsächlich war es meine erste Fahrt mit einem Rollstuhl überhaupt – also war nicht nur der Reagiro neu für mich, sondern allgemein einen Rollstuhl zu benutzen! Ich war aufgeregt und nervös, als ich mich in den Reagiro setzte und fragte: „Was soll ich jetzt machen?“ Ich versuchte herauszufinden, wie ich den Rollstuhl über meinen Rücken starten konnte – und vergass dabei komplett, dass es ein manueller Rollstuhl ist und deshalb mindestens eine Hand braucht, um den Rollstuhl in Gang zu setzen.

Mit den Expertentipps von Reto gelang es mir schnell, den Rollstuhl fortzubewegen und mit dem Rücken zu steuern. Ich hatte sogar eine Hand für ein Selfie frei. ;)

Was machen mit der freien Hand während der Fahrt mit dem Reagiro? Vielleicht ein Selfie? ;)

Eine steile Lernkurve

Meine erste Fahrt mit dem Reagiro war also erfolgreich. Allerdings fühlte ich mich beim Steuern mit dem Rücken eher unbeholfen. Als ich die Fotos meiner Fahrt mit dem Reagiro ansah, stellte ich fest, dass ich den Rollstuhl meistens immer noch mit beiden Händen steuerte. Ist es nicht Sinn und Zweck dieses manuellen Rollstuhls, auch beim Fahren immer eine freie Hand zu haben? Geht es nur mir so oder hatten das Problem auch andere, die den Reagiro getestet haben?

Tatsächlich bestätigte Reto, dass es vielen, die den Reagiro ausprobierten, genauso ergangen ist. Bisher gibt es noch keine Rollstuhlfahrer, die den Reagiro lange genug benutzt haben, um flüssig und natürlich manövrieren zu können.

Aber wie kann ein Benutzer den Reagiro dann so problemlos steuern wie Reto in dem Video oben? Gibt es einen Trick? Es gehört sicherlich mehr dazu als nur „Übung macht den Meister“. Reto betonte, dass

„je erfahrener ein Rollstuhlfahrer ist, desto unkonventioneller ist es für ihn, den Reagiro zu steuern“.

Nach den Testfahrten gab einige Benutzer an, anfangs Probleme mit dem Reagiro gehabt zu haben. Reto erklärte, dass diesen Benutzern in der Regel der Steuerungsmechanismus des Reagiro nicht so klar war und sie einige Zeit brauchten, um sich daran zu gewöhnen. „Die Lernkurve ist ziemlich steil“, meinte Reto.

Mehr Anpassungen und Trainings sind notwendig, damit die Benutzer den Reagiro mit nur einer Hand bedienen können.

Alte Gewohnheiten legen sich nur schwer ab

Im Vergleich zu mir hat Johannes etwas mehr Erfahrung mit Rollstühlen. Er beschrieb jedoch auch ein seltsames Gefühl, als er den Reagiro austestete – vor allem, weil er seinem Körper die Steuerung überlassen musste, um nicht gegen eine Wand zu fahren. Nach einigen Minuten mit dem Reagiro fasste Johannes mehr Vertrauen und fühlte sich beim Lenken sicherer. Er war überzeugt, dass man sich an die Steuerung über die Rückenlehne recht schnell gewöhnen kann.

Reto erklärte, dass es nicht ungewöhnlich ist, intuitiv erstmal beide Hände anstatt den Oberkörper zur Steuerung zu verwenden, insbesondere für Menschen mit hoher Querschnittlähmung. Rollstuhlfahrer sind generell stärker auf die Rückenlehne angewiesen, um ihren Körper stabil zu halten. Deshalb könnte es für sie schwieriger sein, mit dem Steuerungsmechanismus über die Rückenlehne zurecht zu kommen.

Reto wies jedoch darauf hin, dass Flexibilität und Bewegung nicht unbedingt auf Kosten von Stabilität gehen müssen. Er hat erkannt, dass die meisten Rollstuhlfahrer auf ihren Rücken zur Stabilisierung im Rollstuhl angewiesen sind. Daher möchte er den Reagiro nun so verändern, dass die Benutzer sich stabil fühlen und zugleich mehr Bewegungsfreiheit haben. Mit einem solchen Design werden die Benutzer hoffentlich verschiedene Körperteile zur Bewegung des Rollstuhls einsetzen und so durch das Fahren auch therapeutische Effekte haben.

Wie bewerten Experten den Reagiro?

Während Retos Besuch machten wir eine Tour durch die Orthotec – eine Firma am Schweizer Paraplegiker-Zentrum, die viele verschiedene Dienstleistungen für Menschen mit Behinderungen anbietet. An jenem Tag zeigte uns Markus Anderhub die Werkstatt, wo Rollstühle gebaut, umgerüstet und angepasst werden.

Retos erster Besuch bei der Orthotec-Rollstuhlwerkstatt des Schweizer Paraplegiker-Zentrums.

Markus ist Rollstuhlfahrer mit inkompletter Paraplegie (L2-3). Er verfügt über grosse Erfahrung mit Hilfsmitteln und arbeitet seit diesem Jahr bei der Orthotec als Hilfsmittelberater. Wir boten Markus an, den Reagiro einmal auszuprobieren. Und das sah so aus:

Auf der Orthotec-Tour gab Markus Tipps an Reto zur weiteren Verbesserung des Reagiro.

Markus gefiel das Rücken-Steuerungskonzept des Reagiro. Allerdings sagte er, dass der aktuelle Reagiro noch lange nicht für draussen geeignet sei. Er verwies auf viele Sicherheitsprobleme des Reagiro, die Reto beachten sollte. Beispielsweise sind Veränderungen notwendig, welche das Risiko des Umkippens minimieren. Reto stimmte Markus zu; tatsächlich ist ihm dieses Stabilitätsproblem des Reagiro bereits bewusst und er plant, daran zu arbeiten.

Reagiro – die nächsten Schritte

Den Reagiro-Prototypen gibt es nun schon über ein Jahr. Wie geht es weiter?

Reto erklärte uns enthusiastisch seinen nächsten Schritt: den Beginn eines Doktorats an der ETH Zürich ab September 2018. Dort arbeitet er weiter an seinem Reagiro-Projekt am Labor für Bewegungs-Biomechanik des Departements Gesundheitswissenschaften und Technologie. Und es gibt noch mehr gute Neuigkeiten: Sein Projekt wird von Küschall finanziert, dem bekannten Schweizer Rollstuhlhersteller.

Während seines Doktorats wird Reto das Potenzial des Reagiro weiter erforschen: Kann der Rückensteuerungsmechanismus – neben seiner Funktion als Mobilitätshilfe – bei den Benutzern die Rumpfmuskulatur stimulieren, den Kreislauf anregen oder sogar das Gleichgewicht trainieren?

Hat der Reagiro eine Chance auf dem Markt?

Der Reagiro scheint das Potenzial zu haben, ein beliebter Rollstuhl zu werden. Wann wird er auf dem Markt erhältlich sein?

Obwohl Küschall daran interessiert ist, so etwas wie den Reagiro auf den Markt zu bringen, gibt es dafür keinen zeitlichen Rahmen. Reto erklärte:

„Es ist wirklich schwierig, von einer Art Forschungsprojekt an der Universität oder im Designstudio hin zum Prototypen zu gelangen. Es ist wirklich schwierig, daraus ein echtes Produkt zu entwickeln und es denjenigen zur Verfügung zu stellen, die es eventuell benötigen. Es gibt so viele gute Konzeptideen, die in der Schublade landen und es nicht auf den Markt schaffen.“

Wird sich der Reagiro auf dem Rollstuhlmarkt behaupten können?

Eine der grössten Herausforderungen für jeden Designer oder Ingenieur ist die Beharrlichkeit, ihr Design oder Produkt auf den Markt zu bringen. Jetzt, mit der Finanzierung von Küschall, kann sich Reto auf die nutzerorientierte Verbesserung des Reagiro konzentrieren.

Reto ist sich bewusst, dass es zur Verbesserung des Reagiro noch viel zu tun gibt. Tatsächlich fragt er sich, an welchem Punkt er keine weiteren Änderungen mehr vornehmen wird – denn er ist der Meinung, dass man immer alles noch besser machen kann. Für den Moment wird er sich auf die erhaltenen Rückmeldungen konzentrieren und er wird weitere Versuche machen und Diskussionen über den Reagiro führen mit vielen Rollstuhlfahrern, Ingenieuren und Gesundheitsexperten.

“Ich denke, dass noch viele weitere Dinge notwendig sind, bis der Reagiro tatsächlich das Leben von jemandem verändern wird. Ich hoffe, ich werde diese Dinge richtig machen.“

Die Community wünscht Reto und seinem Projekt mit dem Reagiro viel Erfolg! Wir freuen uns darauf, weitere nutzerzentrierte Designer wie Reto und innovative Hilfsmittel wie den Reagiro auf dem Markt zu sehen. Wir werden Reto und die Entwicklung des Reagiro hier in der Community verfolgen. Bleibt dran!

Habt Ihr Kommentare zum Reagiro-Projekt? Wir würden gerne Eure Expertenmeinung hören!

[Übersetzung des originalen englischen Beitrags]

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