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Wissenschaft

Neue Forschung zu Harnwegsinfektionen

Harnwegsinfektionen sind ein häufiges Problem bei Querschnittlähmung. Ein neuer Lösungsansatz kommt aus der Schweiz.

Harnwegsinfektionen sind ein häufiges Problem bei Querschnittlähmung. Ein neuer Lösungsansatz kommt aus der Schweiz.

Teil 1: Ursachen für Harnwegsinfektionen bei Querschnittlähmung

Urintest

Harnwegsinfektionen sind eine der häufigsten Komplikationen bei Querschnittlähmungen: 59 % der Betroffenen leiden darunter. Hauptursache sind Bakterien aus dem Darm, die aus der Umgebung der Harnröhrenöffnung in die Harnröhre und die Blase aufsteigen. Bei schweren Infektionen steigt die Infektion weiter in die Harnleiter bis in das Nierenbecken. Häufig wiederkehrende Infektionen können die Lebensqualität Betroffener immens herabsetzen.

Wenn Sie wissen möchten, wie Sie Harnwegsinfektionen erkennen und vorbeugen können, lesen Sie diesen Artikel in unserem Wiki.

Warum sind Querschnittgelähmte besonders von Harnwegsinfekten betroffen?

Bei den meisten Menschen mit Querschnittlähmung kann das Gehirn keinen Einfluss mehr auf die Funktion der Blase ausüben. Die Blasenfunktion ist in vielen Fällen gestört. Wird die Blase nicht regelmässig entleert, können Blasenentzündungen entstehen. Aber auch eine mangelnde Intimhygiene, ein geschwächtes Immunsystem, Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus und Gicht oder ein Östrogenmangel während und nach den Wechseljahren können Harnwegsinfektionen fördern.

Die Katheterisierung birgt ein erhöhtes Risiko für Blaseninfektionen.

SwiSCI-Studie identifiziert Katheter als Risiko

Einen grossen Einfluss auf das Risiko für Harnwegsinfektionen hat die Methode der Blasenentleerung. Eine aktuelle SwiSCI-Studie hat untersucht, welche Risikofaktoren der Erstrehabilitation zu einer Harnwegsinfektion führen können. Während der Studie hatten 43 % der Teilnehmer mindestens eine Blasenentzündung (Gesamtanzahl der Teilnehmer: 369).

Laut Studie steigt das Risiko besonders, wenn die Blase durch Katheter entleert wird. Dabei spielt weder die Art der Katheter eine Rolle noch, ob der Katheter selbst oder durch Pflegepersonal gelegt wird: Für alle Formen ist das Risiko einer Harnwegsinfektion 5- bis 6-mal höher als bei einer spontanen Blasenentleerung.

Beim Katheterisieren besteht die Gefahr, dass Keime mit dem Katheter in die Blase geschoben werden. Eine spontane Blasenentleerung ist für die meisten Betroffenen aber nicht möglich und das Katheterisieren ist die bestmögliche Methode. Laut Studie ist die Auswahl der Methode in hohem Masse abhängig von der Läsionsart und -höhe, dem Level an Unabhängigkeit in der eigenen Pflege sowie von Alter und Geschlecht.

Das Risiko einer Harnwegsinfektion durch Katheter lässt sich demnach kaum reduzieren. Einen möglichen Durchbruch im Blasenmanagement könnte es in Zukunft aber mit der sogenannten Neuromodulation geben. Das folgende Kapitel befasst sich mit einer SwiSCI-Studie, die testet, ob man die Funktion der Blase erhalten kann und irreversible Schäden gar nicht erst entstehen.

Teil 2: Forschung zur Neuromodulation – einer bahnbrechenden Methode zur Erhaltung der Blasenfunktion?

Das Harnsystem

Bei einem gesunden Menschen wird die Blasenentleerung durch Nervenbahnen gesteuert, die ihren Ursprung im Gehirn und Rückenmark haben. Die Nervenbahnen reagieren eng verzahnt und sind durch eine Reihe von Reflexbögen verbunden.

Kommt es zu einer Rückenmarksverletzung, ist diese feine Steuerung der Reflexe jedoch unterbrochen. Die daraus folgende Blasenfunktionsstörung kann zu einem gestörten Gefühl für die Blasenfüllung, zu einer fehlenden oder unvollständigen Blasenentleerung sowie zu Harninkontinenz führen. Ohne sofortige urologische Massnahmen wird die Harnblase überdehnt und es drohen Infektionen bis hin zu Nierenversagen.

Dieses zentrale Problem greift nun ein vielversprechendes Projekt der SwiSCI-Studie auf, das vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wird. Unter der Leitung des Neuro-Urologen Prof. Dr. Thomas Kessler der Universitätsklinik Balgrist und in Zusammenarbeit mit allen vier Paraplegie-Zentren sowie der Schweizer Paraplegiker-Forschung untersuchen Wissenschaftler, ob sich die irreversible Schädigung der Blasenfunktion von vornherein vermeiden lässt.

Elektrische Stimulation (Symbolbild)

Elektrische Stimulation in der Frühphase der Erstrehabilitation

In der Studie erhalten akut rückenmarksverletzte Personen über mehrere Wochen jeden Tag eine elektrische Stimulation bestimmter Nervenbahnen. Dadurch sollen, so nehmen die Wissenschaftler an, jene Reflexe erhalten bleiben, die zur korrekten Funktion von Harnblase und Schliessmuskel notwendig sind. Die Blase würde somit trotz Rückenmarksverletzung weitgehend funktionieren und betroffene Personen hätten weniger Komplikationen zu befürchten.

Ein Meilenstein?

Diese Methode der sogenannten Neuromodulation ist wissenschaftlich vielversprechend. Bisher fehlen jedoch Erkenntnisse zum Zusammenhang mit dem Läsionstyp und der Läsionshöhe wie auch zu den langfristigen Auswirkungen.

Die Studie wird einen wesentlichen Beitrag auf diesem Gebiet leisten: Falls sich die Vermutung der Wissenschaftler bestätigt und sich die Neuromodulation als erfolgreich herausstellt, wäre dies ein Meilenstein in der Blasenrehabilitation Rückenmarksverletzter. Der Fokus könnte sich dann von der Behandlung einer bestehenden Funktionsstörung hin zur Prävention verschieben und so das Blasenmanagement massgeblich verändern. Erste Studienresultate werden voraussichtlich Ende 2022 vorliegen.

Teil 3: «Einen riesigen Schritt vorwärts» – Interview mit Prof. Dr. Thomas Kessler, Initiator und Leiter des Projektes zur Neuromodulation

Thomas Kessler ist Chefarzt der Neuro-Urologie an der Universitätsklinik Balgrist und Professor an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich.

Herr Kessler, falls Ihre Studie zeigt, dass man die Blasenfunktion bei Rückenmarksverletzten durch Neuromodulation weitgehend erhalten kann, welche Bedeutung hätte dies zukünftig für Betroffene?

Blasenfunktionsstörungen gehören zu den wichtigsten Problemen, mit denen rückenmarksverletzte Patienten zu kämpfen haben. Oft führen Blasenfunktionsstörungen zu einer starken Einschränkung der Lebensqualität und zu einer Gefährdung der Nierenfunktion, so dass eine lebenslange urologische Betreuung und meist auch Therapie nötig ist. Wenn wir diese Problematik verbessern können, dann haben wir für unsere Patienten einen riesigen Schritt vorwärts gemacht!

Spüren Patienten die elektrische Stimulation der Nerven? Ist es schmerzhaft?

Die elektrische Stimulation liegt unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, das heisst sie wird von den Patienten nicht gespürt und ist folglich auch nicht schmerzhaft.

Warum birgt das Katheterisieren ein relativ hohes Risiko, einen Blaseninfekt zu entwickeln, wie Resultate der SwiSCI-Studie gezeigt haben? Wie liesse sich dieses Risiko verringern?

Beim Katheterisieren kommen durch das Fremdmaterial Bakterien in den Körper, die einen Infekt verursachen können. Dies führt im Vergleich zur «normalen», restharnfreien Entleerung durch die Harnröhre zu einem erhöhten Risiko für Blaseninfekte. Allerdings haben hohe Restharnmengen ein noch höheres Blaseninfektrisiko, so dass das Katheterisieren letztlich das «kleinere Übel» ist.

Einmal-Blasenkatheter

Wenn immer möglich, sollte der intermittierende Selbstkatheterismus dem Dauerkatheterismus vorgezogen werden. Beim intermittierenden Selbstkatheterismus ist das Fremdmaterial weniger lang im Körper. Dadurch ist das Blaseninfektions-Risiko im Vergleich zum Dauerkatheterismus – hier befindet sich der Katheter die ganze Zeit im Körper – deutlich niedriger. Zur Minimierung des Blaseninfektrisikos sollte eine «normale», restharnfreie Harnblasenentleerung durch die Harnröhre angestrebt werden.

Was sind die wichtigsten Behandlungsschritte bei Harnwegsinfektionen? Unter welchen Voraussetzungen ist der Einsatz von Antibiotika sinnvoll?

Idealerweise sollten bei der Behandlung einer Harnwegsinfektion nur Antibiotika eingesetzt werden, welche die Bakterien auch wirklich abtöten können. So sollte vor einer antibiotischen Therapie eine Urinkultur zur Bestimmung des Bakterien-Resistenz-Spektrums erfolgen. Bei «blinder» antibiotischer Therapie läuft man Gefahr, das falsche Antibiotikum zu wählen, was zu einer Resistenz auf das entsprechende Antibiotikum führen kann.

Bei den meisten Patienten, die den intermittierenden Selbstkatheterismus durchführen oder die Blase durch einen Dauerkatheter entleeren, finden sich bei der Urinuntersuchung Bakterien in der Harnblase. Solange diese Bakterien keine Beschwerden verursachen, sollte keine antibiotische Therapie erfolgen.

aus: Swiss Spinal Cord Injury Cohort Study Newsletter 1/2018

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