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- 01. November 2015
- Gipfelstürmer_o
'Form Follows Function' lautet ein Credo in der architektonischen Gestaltung – d.h. die Form eines Gebäudes hat sich in erster Linie an der Funktion eines Gebäudes auszurichten.
Die von Stararchitekt Mario Botta entworfene Bergstation von Glacier 3000 tut dies. In ihrer Gestaltung erinnert sie an eine im ewigen Eis der Antarktis platzierte Forschungsstation. Eine passende Form also für Wintersportler oder Sommerwanderer, die an der Grenze zum ewigen Eis ihre eigenen Grenzen ausloten wollen.
An Rollstuhlfahrer allerdings wurde – meines Erachtens – bei der Gestaltung des Baus weniger konsequent gedacht. Aber der Reihe nach…
Bei unserer sechsten Erkundungstour waren wir auf dem Scex Rouge, dem Gipfel des zu 'Glacier 3000' gehörenden Wander- und Skigebietes zwischen Gstaad und Les Diablerets, gleich oberhalb des Col du Pillon, wo sich auch die Talstation der Bergbahn befindet.
Unsere Reiseroute führte uns mit dem Zug von Bern via Zweisimmen nach Gstaad und von da aus weiter mit dem Bus auf den Col du Pillon.
Mit der BLS fährt man von Bern problemlos und hindernisfrei bis nach Zweisimmen. Dort gilt es umzusteigen auf den 'Goldenpass' nach Montreux. Dieser Zug fährt mal als Regionalzug, mal als Direktzug in der 'Panoramic'- oder, wie bei uns, in der 'Classic'-Variante auf dieser Strecke. Die 'Classic'-Waggons sind zwar heimelig (siehe Bild oben), aber für Rollstühle untauglich. Entweder man nimmt mit einem Platz im Material-Waggon vorlieb, oder dann wählt man einen anderen Zug aus mit etwas mehr Platz.
In Gstaad erfolgt der Wechsel vom Zug auf das Postauto. Der Bahnhof ist für Rollstuhlfahrer gut eingerichtet – Rollstuhllift für den Ein- und Ausstieg beim Zug (unbedingt reservieren!), Personenlifte auf allen Perrons, schwellenfreie Zugänge zu allen Bereichen des Areals.
In der Bildmitte sehen wir das Bahnhofsgebäude mit den Toiletten (Eurokey!). Hinter dem Gebäude hat es einen grösseren Parkplatz mit zwei separaten Plätzen für Rollstuhl-PW.
Nach rund 30-minütiger Fahrt im Postauto erreichen wir den Col du Pillon und damit die Talstation von Glacier 3000.
Parkplätze für PW hat es da genug, speziell markierte Bereiche für Rollstuhl-PW allerdings haben wir keine gesehen – vielleicht deshalb, weil gerade ein grosser Bereich des Platzes frisch geteert wurde.
Bei der Talstation fanden sich dann auch alle Teilnehmer unserer Expedition auf den Scex Rouge ein – inklusive eines Reporterteams vom 'Télévision Suisse de la Romandie'.
Die Kabinen der Glacier-3000-Bahn sind sehr grosszügig konstruiert – 125 Fussgängern bieten sie Platz! Da hat es natürlich auch genügend Raum für mehrere Rollstühle und sogar das eine oder andere Haustier!
Die Fenster sind so angebracht, dass man auch im Rollstuhl sitzend perfekte Sicht auf die Berge ringsum hat.
Die Bergstation selbst ist ein Gebäudekomplex aus Station, zwei Restaurants, einem Souvenirladen und einer nach Südosten ausgerichteten Aussichtsplattform.
Restaurants und Plattform sind über die zwei Lifte im Gebäude problemlos zugänglich, aber wenn man von der Bergstation direkt auf den kleinen Vorplatz fährt, wo auch der grosse Souvenirladen an die Station angegliedert ist, dann ist bald einmal Schluss mit der Bewegungsfreiheit: der Laden ist nur über eine Treppe erreichbar, ebenso die 'höchstgelegene Rodelbahn der Welt', und die Wanderwege sind für Rollstuhlfahrer auch nicht erreichbar oder aber nicht rollstuhltauglich.
Wenn man sich nun auf die recht grosszügige Aussichtsterrasse im 2. Stock begibt (Bild oben), dann hat man tatsächlich eine tolle Sicht auf die Berner und Walliser Alpen. Fussgänger können durch die Hightech-Fernrohre (rechts der Bildmitte sieht man eins davon) die umliegenden Gipfel betrachten und kriegen gleich auch deren Namen eingeblendet; für Rollstuhlfahrer sind sie aber zu hoch angebracht.
Dafür gibt es für sie eine gut einsehbare Informationstafel zu den Gebirgszügen rundherum.
Die momentane Hauptattraktion von Glacier 3000 ist aber der Aussichtspunkt des Scex Rouge (Bildmitte) und der seit dem letzten Jahr bestehende 'Peak Walk', eine 107 m lange Hängebrücke zum benachbarten Gipfel…
Wie man auf obigem Bild erahnen kann, ist dieser Aussichtspunkt mit dem Zugang über eine Stahlbrücke, Galerie und steile Treppe im Prinzip nicht zugänglich für Rollstuhlfahrer…
Im Prinzip…
… aber unsere Expeditionsteilnehmer wollten sich von diesen widrigen Gegebenheiten nicht abschrecken lassen und nahmen den Weg unter die Räder!
Nach einer kurzen Besprechung über die Machbarkeit des Vorhabens und mögliche Transportarten ging es dann gipfelwärts…
… entweder von kräftigen Händen getragen im Rollstuhl oder …
… im Huckepack-Verfahren – ebenfalls von kräftigen Händen getragen!
Wenn ich mir hier allerdings eine persönliche Bemerkung erlauben darf: Ich würde dieses Vorgehen NICHT unbedingt zur Nachahmung empfehlen! Die Treppe ist lang und steil, ein kleiner Ausrutscher genügt, und man findet sich etliche Meter weiter unten wieder…
Aber alle unsere Teilnehmer waren sehr sportlich und kräftig, dazu natürlich sehr motiviert, und so glaubten sie, das Risiko verantworten zu können.
Auch der 'Peak Walk' wollte erobert sein, und so kämpften wir uns denn durch die immer wieder herbeiziehenden Wolkenfetzen hin zum zweiten Gipfel.
Mitten in den Wolken sieht man natürlich nicht wahnsinnig viel von der umliegenden Landschaft, aber wenn man an einem schönen Tag den Weg nach da oben findet, dann bietet sich auf dem 'Peak Walk' schon ein toller Ausblick in alle Himmelsrichtungen (hier nach Westen)!
Dreht man sich dann um und blickt Richtung Osten, dann sieht es so aus:
Hinter dem Scex Rouge in der Bildmitte türmen sich die Berner und Walliser Alpen auf.
Überhaupt bietet der Scex Rouge eine sehr schönes Panorama in alle Richtungen – nicht nur wie hier nach Südosten (eine ca. 210°-Aufnahme)…
… sondern auch nach Nordwesten!
Unsere Expeditionsteilnehmer allerdings wurden immer wieder von Wolkenschwaden heimgesucht. Doch das tat der Stimmung in der Gruppe keinen Abbruch! Hier sehen wir in der hinteren Reihe (v.l.n.r.) Hugues Buchard (Kameramann vom TSR), Nikola Angelov, René Wildi, Dr. Hans Georg Koch, Didier Dvorak (Ehemann von Silke Pan) und Pascale Defrance (Reporterin vom TSR), vorne Silke Pan und Sébastian Tobler, unsere Begleitpersonen im Rollstuhl. Das Bild aufgenommen hat Guillaume Roud, Presseattaché des SPV in der Westschweiz.
Nach so viel Wolken, Wind und kalter Witterung hatten wir alle einen kleinen Imbiss verdient…
… denn in der Bergstation gibt es zwei leicht zugängliche Restaurants: ein bedientes (im 4. Stock) sowie ein Selbstbedienungsrestaurant im 3. Stock. Beide Restaurants haben grosse Fensterfronten, so dass man also auch an der Wärme sitzend die Aussicht geniessen kann – vorausgesetzt natürlich, man sitzt nicht gerade mitten in einer Wolke drin…
… Und dann, dann ging es doch langsam wieder zurück in die Wolke und in die Niederungen des Col du Pillon, um von da aus die Heimreise anzutreten.
Fazit: Allen Teilnehmern hat die Exkursion viel Vergnügen bereitet. Alle Bereiche in der Bergstation sind frei und leicht zugänglich. Aber die Bewegungsfreiheit um die Bergstation ist für Rollstuhlfahrer doch ziemlich stark eingeschränkt. Scex Rouge / Glacier 3000 mag im Sommer für Wanderer, im Winter für Schneesportler ein kleines Paradies sein, aber wenn man bedenkt, dass eine Fahrkarte für Erwachsene (ohne GA oder Halbtax) auf den Gipfel und zurück Fr. 79.- kostet, dann stimmt meines Erachtens das Preis-/Leistungsverhältnis für Rollstuhlfahrer nicht ganz.
Dies war's also für den Augenblick von unserer Seite. Bevor nun der Winter auch in den tiefen Lagen des Landes über uns hereinbricht, wollen wir uns noch einmal in den milden Süden wagen. Dann gibt es hoffentlich bald den ersten Reisebericht aus der Schweizer Sonnenstube!
Die Gipfelstürmer
- Anhang 1: Scex Rouge pdf-Checkliste
- TV-Bericht des Westschweizer Fernsehens vom 13. Oktober 2015 unter: http://www.rts.ch/play/tv/19h30/video/vd-des-personnes-en-chaise-roulante-testent-laccessibilite-des-sommets-suisses?id=7165824