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Wir alle «dopen» uns durchs Leben

Am 7. August 2016 sind die Würfel gefallen: Gemäss Entscheid des Internationalen Paralympischen Komitees sind die behinderten russischen Athleten wegen Doping-Missbrauchs gebannt. Sie dürfen vom 7. bis 18. September 2016 nicht an den Paralympics in Rio de Janeiro teilnehmen. Unter den russischen Athleten dopen sich also sogar die Behinderten. Dass nur sie der Bann trifft, gibt zu denken. Trotzdem ist der Entscheid wahrscheinlich richtig.

Der Sport ist auf dieser Welt der einzige Bereich, der weitgehende Chancengleichheit gewährleistet. Wer sich dopt, hintertreibt diese Gerechtigkeit und verschafft sich unverdiente Vorteile – wie andere, die sich kraft Geld einen Ehrentitel oder einen lukrativen Auftrag erkaufen.

Trotz dieser Einsicht bleibt ein schaler Nachgeschmack, denn letztlich dopen wir uns alle, aber nicht alles, was wir zu unserem Wohlbefinden unternehmen, gilt als Doping.

Den Festredner, der sich zuvor noch etwas Mut antrinkt, betrachtet niemand als gedopt. Der Geschäftsmann, der vor dem Verhandlungsmarathon vom folgenden Tag, schon um 20.30 Uhr zu Bett geht, handelt nach unserer Auffassung richtig, obschon seine Frau froh wäre, würde er sich wenigstens am Abend um seine Familie kümmern. Stillschweigend billigen wir auch, dass er noch ein Dormicum nimmt, um schneller einzuschlafen. Der Prüfling, der sich vor der mündlichen Abschlussprüfung mit Ritalin zu messerscharfem Denken verhilft, tut das heimlich. Es wird auch niemand überprüfen, was er alles in sein Frühstücksmüsli gemischt hat. Schliesslich gibt es die ganze Palette von mentalen Trainings und Allerweltstherapien, mit denen wir uns eigennützig trimmen, nur schon um den Alltag zu bewältigen. Wir gestehen uns aber nie ein, dass alle diese Techniken dopingähnliche Schummeleien sein könnten. Es gilt vielmehr die allgemein anerkannte Vermutung, all diese zeit- und geldraubenden Massnahmen zur Verbesserung unseres Wohlbefindens seien gesund und vollkommen unbedenklich.

Die Kiffer und Kokser sind da aufrichtiger: Sie bezeichnen ihr «Gras», den «Pot», ihren «Schnee» oder ihr «Kraut» freimütig als Dope. Er verschönert ihr Leben zumindest vorübergehend. Das tut im Übrigen auch der Fitness-Rausch, den viele im einschlägigen Zentrum auf unnatürliche, mutmasslich gesundheitsschädigende Weise im Schweisse des Antlitzes zu erlangen versuchen.

Doping gehört seit jeher zum Leben. Zum Leben des Berufssportlers gehört es zudem, zur Freude der Zuschauer um jeden Preis immer wieder neue Spitzenleistungen zu erbringen. Also dopt auch er und noch mehr als die andern. Schliesslich muss er auch mehr bringen.

Im Wettbewerb unter behinderten Sportlern gibt es noch besondere Formen von Doping. Jede kleine Bewegung, die der inkomplett Geschädigte im Widerspruch zum Lehrbuch doch beherrscht, bevorteilt ihn, als wäre er gedopt. Hinzu kommt, dass wir Behinderte im Laufe unseres Daseins gelernt haben, im Umgang mit unseren Mängeln kreativ zu sein. So hat sich eine grosse, für Aussenstehende kaum durchdringbare Trickkiste entwickelt, auf die der Behindertensportler reflexartig zurückgreift – auch wenn es unsportlich und unfair ist.

Ich selbst ertappe mich immer wieder dabei, wie ich durchaus gerne das verpönte Boosting auslöse, um so meinen Kreislauf und den lahmenden Geist anzukurbeln – und das ohne den leisesten Ehrgeiz, je sportliche Superleistungen zu erbringen. Einfach so, um zu bestehen.
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