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Gesellschaft

Scham plagt uns

Wir schämen uns für Dinge, die wir gar nicht verantworten: Krankheiten, vermeintliche Makel, Schwächen, sogar für die Taten anderer

Wir schämen uns für Dinge, die wir gar nicht verantworten: Krankheiten, vermeintliche Makel, Schwächen, sogar für die Taten anderer

«In meinem Stammlokal habe ich meinen festen Platz, ganz hinten in der Ecke. Da sieht keiner, dass ich im Rollstuhl bin», berichtet mir stolz ein Tetraplegiker.

Er weiss auch, dass der ehemalige Chefarzt inzwischen selbst neurologische Beschwerden hat: «Jeder Schritt bereitet ihm Schmerzen, aber er lässt sich nichts anmerken.»

Ich selbst entsinne mich eines inzwischen pensionierten Professors für Psychologie, von dem es heisst: «Mit ihm kannst du über alles reden, nur nicht über seinen Parkinson.»

Hinter allem steht die Scham

Wir alle kennen diese Verhaltensmuster, halten uns selbst daran. Wer von uns entlastet sein Gesäss oder löst gar mit dem typischen Klopfen den Blasenreflex aus, wenn wir in Gesellschaft sind? Es gehört sich nicht, wir sind etwas verlegen, genieren uns. Wir mögen es nicht, noch gebrechlicher zu erscheinen, als wir es in unseren Rollstühlen eh sind. Tapfer und wie alle anderen möchten wir auftreten.

So benehmen sich in unseren Breitengraden die meisten Menschen auch an einer Abdankungsfeier. Kaum jemand weint lauthals, obschon der Verlust des Mitmenschen zum Heulen traurig ist.

patient im rollstuhl bei der gesässentlastung

In der Öffentlichkeit meiden wir es, unser Gesäss zu entlasten. Es betont unsere Behinderung mehr als nötig. Das macht uns verlegen.

Verborgene Schamgefühle übernehmen uns, sobald uns Zeichen vermeintlicher Schwäche oder eines Makels befallen. Besonders verletzlich sind Erfolgsverwöhnte, so etwa der nunmehr hinkende ehemalige Spitzensportler. Mehr als ins Elend zu saufen, kriegt er in seinen späten Tagen nicht mehr hin.

Nicht besser geht es dem kränklich gewordenen charismatischen Unternehmensführer oder Politiker. Statt heldenhaft «sich nichts anmerken zu lassen», fällt er in eine Altersdepression. In beiden Fällen schämen sich die Betroffenen, dass sie nach ihren Glanzzeiten so kümmerlich daherkommen. Daran zerbrechen sie.

Nur bei eigenen Fehlern ist Scham begründet

Ungeschriebene Gesetze und gesellschaftliche Konventionen verlangen von uns, dass wir stets fit und leistungsfähig sind. Erfüllen wir die Anforderungen nicht, so spült es uns vom sprudelnden, aufregenden Zentrum an den seichten und öden Rand der Gesellschaft.

Dort müssen wir uns nicht beweisen, finden Ruhe. Wir empfinden sie als trügerisch, denn wir fühlen uns abgeschoben, gezeichnet vom Makel der Leistungsschwäche und dem Eindruck von Minderwertigkeit. Dafür schämen wir uns, als hätten wir eine Untat begangen.

ungepflegter älterer mann

Es trifft nicht nur Obdachlose: Wer nicht mehr mithalten kann, wird schamlos an den Rand gespült.

Natürlich ist es ethisch unlogisch, wenn wir uns für Vorkommnisse schämen, die wir gar nicht verantworten können. Als klassische Beispiele seien der Blinde genannt oder auch das kleine Kind, das sich für seine Eltern schämt, die als Alkoholiker und Taugenichtse gelten. Weder der Blinde noch das Kind haben fehlerhaft gehandelt. Trotzdem verfallen sie der Scham. Der soziale Rahmen zwingt sie ihnen auf.

Heutzutage muss man sich für weniger schämen – für Behinderungen und Krankheiten aber weiterhin

Immerhin ist das Toleranzspektrum in unseren Gesellschaften seit 1968 breiter geworden. Auffälligen, Andersartigen, selbst «schrägen Vögeln» bringen sie mehr Verständnis, teils Respekt, mitunter sogar Bewunderung entgegen – sofern sie etwas bieten, und zwar Mess- und Erlebbares. Die Paralympics veranschaulichen das besonders deutlich.

Im Zentrum der gesellschaftlichen Dynamik und der Macht stehen diese Sportler gleichwohl nicht. Dort sind heute gewisse Extravaganzen und Kauzigkeiten geduldet, aber nicht mehr. Der Bankdirektor darf eine Harley-Davidson fahren, allenfalls Cowboystiefel tragen und mit gepflegtem Stoppelbart auftreten. Kleinwüchsig sollte er aber nicht sein, spastisch auch nicht, blind erst recht nicht. Er soll ja Kunden gewandt empfangen und sie ja nicht in Verlegenheit bringen. Diese ist die Vorstufe zur Scham.

Bei fortschreitenden, unheilbaren Krankheiten bricht die Scham noch aus anderem Grunde durch: Sie bringen den Tod mit sich, rücken ihn wie böse Geister in unmittelbare Nähe. Wer sie in sich trägt, ist gezeichnet, strahlt mahnendes Unglück aus, zeigt uns unsere Ohnmacht schamlos auf. Das erfüllt uns und den Erkrankten mit Scham – in fast schon unverschämter Weise.

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