Das Unglück anderer beurteilen die Mitmenschen sehr unterschiedlich und kaum gerecht
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- 22. April 2019
- fritz
«Am 20. Februar 2018 ist Andi gestorben, Krebs hatte er», antworte ich Eduard. Toni fügt an: «Kehlkopfkrebs hatte er.» Einen kurzen Moment schweigen alle am Tisch. Derweil bringt die Kellnerin das Essen, jeweils zwei Teller aufs Mal. Die einen haben «Guanciale di coda di rospo, e verdure al cartoccio», ein leichtes Gericht mit Steinbutt und Gemüse bestellt, die anderen die deftigeren Teigwaren: «Rosette di spinaci, mortadella e ricotta».
«Der hat aber ordentlich geraucht und gesoffen», nimmt Vic den Faden wieder auf, als die Kellnerin alle bedient hat. «Wie du’s nimmst», entgegnet Toni, der die Familie sehr gut kennt, und fährt fort: «Seine Mutter war das Sinnbild einer Asketin, kein Alkohol, kein Nikotin, meistens ass sie fleischlos. Als ehrenamtliche Sozialarbeiterin setzte sie sich das ganze Leben für die Kirchgemeinde ein. Trotzdem ist sie mit 64 an einem fürchterlichen Darmkrebs gestorben.» Auch Andi, ihr Sohn, ist mit 64 von uns gegangen, denke ich für mich. Irgendwie teuflisch.
Wir bestellen mehr Wein. Die Stimmung löst sich. Zu siebt sind wir und fühlen uns wie vor 40 Jahren, als wir studiert haben. Mit Andi wären wir acht. «Hatte er nicht auch eine Schwäche für Frauen aus Afrika?», fragt Mark mit verschmitztem Lächeln. «Und wie, zuletzt schob er mit einer Afrofranzösin», weiss Toni zu erzählen. Die habe ihm womöglich diesen Krebs angehängt, habe er selbst gesagt. «Dann ist er aber mitverantwortlich für sein Schicksal», entweicht es Ivo.
Da schaltet sich Ernst ein. «Bitte keinen Unfug, seit 30 Jahren bin ich mit einer Südafrikanerin verheiratet.» Er ist etwas bleich, sein Gesicht eingefallener als beim letzten Treffen vor zwei Jahren. Es stellt sich heraus, dass er eben ein Prostatakarzinom hat entfernen lassen. Noch sei er nicht ganz über den Berg, aber die Blutwerte neigten in die richtige Richtung. Alle sind sich einig, dass das nichts mit seinem Lebenswandel zu tun hat. Prostatakrebs ist einfach Pech, eine unverdiente Strafe. Vor allem im Falle von Ernst, denken wohl die meisten. Er geniesst den Ruf, ein sorgfältig arbeitender, empathischer Hausarzt zu sein.
«Wir sind nicht an allem schuld, was uns widerfährt», werfe ich ein und erhebe mein Glas: «Ich trinke diesen Tischwein zu meinem und eurem Wohl, auch wenn viele mahnen, es sei ungesund!»
«Mir tut es weh, wenn sich die Menschen kaputtmachen – das ist es, was ich meine», findet Ivo. Dann holt er aus: Rauchen, das sei das Allerschlimmste, was wir tun können. Rauchen verursache nicht nur Lungen- und Kehlkopfkrebs, sondern auch Blasenkrebs. Das sei zwar nicht allgemein bekannt, aber er wisse es. «Von den Kreislaufbeschwerden gar nicht zu reden», schliesst er mit nachdenklichem Blick.
Ich verstehe, was er meint. Wir sollten ein achtsames Leben führen, uns nicht wider besseres Wissen ins Verderben stürzen. Tun wir es doch und es läuft was schief, gelten wir plötzlich als Schuldige oder zumindest Mitschuldige. Die meisten, die gelegentlich überborden und ihren Kehlkopf reizen, erkranken gleichwohl nicht an Krebs. Doch die wenigen, die es trifft, haben fahrlässig und unverantwortlich gehandelt, finden viele.
Den verunglückten Deltasegler beurteilen sie freilich nicht so. Unglückliche Umstände, nicht er, haben den schweren Unfall herbeigeführt. Dabei ist Deltasegeln doch einfach gefährlich.
Ich mag den Gedanken nicht aussprechen, denn Ivo ist selbst Deltasegler. So schwadroniere ich eben: «Vielleicht ist auch dieser Steinbutt weniger gesund, als ihr meint. Ich bin jedenfalls froh, dass ich die Rosette bestellt habe.» Die Frage, ob ich damit verantwortungsvoll handle, bleibt im Raum hängen.