«Exit» ist mit Freitodbegleitung berühmt geworden. Die Palliativmedizin steckt zu Unrecht in derselben Schublade
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- 11. Januar 2022
- fritz
«Exit» ist mit Freitodbegleitung berühmt geworden. Die Palliativmedizin steckt zu Unrecht in derselben Schublade
Am 3. Dezember 1967 gelang dem südafrikanischen Chirurgen Christiaan Barnard die erste Herztransplantation. Die ganze Welt staunte. Selbst Unbeteiligten wurde bewusst, dass die moderne Schulmedizin das Leben inzwischen mindestens teilweise beherrschte. Sie vermochte es künstlich zu verlängern, und das nicht nur mit Transplantationen.
Leben künstlich verlängern
Einer, der diesen medizinischen Fortschritt qualvoll zu spüren bekam, war der faschistische Putschgeneral Franco, der Spanien seit 1939 mit eiserner Faust beherrscht hatte. Schon ab Juli 1974 konnte er sein Amt als Staatschef nicht mehr ausüben, erhielt indes jede medizinische Unterstützung.
Nach seinem Hirntod hielten ihn die Ärzte noch einen Monat lang am Leben, bis er am 20. November 1975 einem «multiplen Organversagen» erlag. Die Vertreter seines politischen Apparats waren daran interessiert, dass er möglichst lange überlebte. Juan Carlos, dem nachfolgenden König, misstrauten sie.
Ich und nur ich bestimme!
Das Beispiel des spanischen Diktators veranschaulicht, wo die 1982 gegründete Sterbehilfeorganisation Exit bis heute ansetzt: Weder die Ärzte noch der Staat noch andere Personen oder Institutionen, nicht einmal unsere Organe oder der liebe Gott sollen verfügen dürfen, wann wir zu gehen haben. Wir selbst bestimmen das. Schliesslich wollen wir «menschenwürdig sterben», verkündete die Organisation seinerzeit.
In der Kritik standen namentlich die – gemäss Exit – willkürlich handelnden «Lebensverlängerer» in weisser Schürze, in der Tasche das Stethoskop und in der Hand das Skalpell. Um ihnen zu entfliehen, boten sie ihren Mitgliedern Freitodbegleitung (FTB) an. Die Einnahme von Natrium-Pentobarbital bewirkt einen Atem- und Herzstillstand.
Exit bietet nicht nur Freitod
Die Freitodbegleitung hat dem Verein Exit mit seinen 135'000 Mitgliedern zum Erfolg verholfen. Doch wie viele machen davon Gebrauch? In den Jahresberichten von Exit und dem kleineren Konkurrenten Dignitas sind Zahlen veröffentlicht. Im Jahr 2020 waren es bei Exit 913 Freitodbegleitungen (2019: 862), bei Dignitas 221 (2019: 256, inklusive Deutschland). Bei insgesamt 76'001 Todesfällen 2020 in der Schweiz (2019: 67'780) entspricht das 1.3 Prozent. Viele sind das nicht.
Dabei ist Freitodbegleitung nicht das einzige, was die Organisation für einen Jahresbeitrag von 45 Franken anbietet. Sie schützt Hilfesuchende auch vor einem unbedachten Selbstmord. Das gilt besonders für den sogenannten Bilanztod. Wer nur aus Öde- und Müdigkeitsgefühl abtreten möchte, kann nicht auf die Hilfe von Exit zählen.
Dagegen setzt der Verein durch, was seine Mitglieder in ihren Patientenverfügungen festgelegt haben, wenn sie sich selbst nicht mehr äussern können. Bedingung ist, dass sie die Verfügung bei Exit hinterlegt haben. Dieses Rechtsmittel, das die Schweiz erst seit 2013 kennt, setzt den verantwortlichen Ärzten einen individuell abgesteckten, einen «selbstbestimmten» Rahmen.
Das Hospiz ist die Alternative
Bei aller Schönfärberei bleibt der Freitod eine aggressive, berechnende Handlung der Selbstvernichtung, ein Mord an sich selbst. Das gilt im Grunde genauso für das sogenannte Sterbefasten, bei dem Sterbewillige bewusst nichts mehr essen und trinken.
Der Vereinsvorstand von Exit war daher klug genug, 1988 die Stiftung palliacura zu gründen. So setzt sich Exit auch für eine Alternative zum Freitod ein: die Palliative Care.
Es ist nicht ganz zufällig, dass ebenfalls 1967, dem Triumphjahr der Herzchirurgie, in London das St Christopher's Hospice seine Tore öffnete: das erste Hospiz für palliative Sterbebegleitung. Es begründete die sogenannte Hospizbewegung. Sie breitete sich rund 20 Jahre später auch bei uns aus.
Ihr Kerngedanke: Nicht alles, was medizintechnisch möglich ist, müssen wir umsetzen. Bezogen auf Barnard, den Starchirurgen, bedeutet das: Du könntest es lassen. Bezogen auf General Franco: Du hättest dich schon Mitte 1974 langsam auf deinen Abschied einstellen können.
Palliativmedizin hat einen schlechten Ruf – zu Unrecht
Doch mit Freitod hat die Palliativmedizin nichts am Hut. Ihr Ruf ist schlechter als sie es verdient. Landläufig mit Morphium und einem schnellen Tod gleichgesetzt, geht es ihr um viel mehr: nämlich um «alle Massnahmen, die das Leiden eines unheilbar kranken Menschen lindern und ihm so eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Ende verschaffen». Dazu gehören schmerzlindernde Therapien, aber auch psychologische und spirituelle Unterstützung.
Entgegen häufiger Vorstellungen will Palliativmedizin den Tod nicht beschleunigen, aber auch nicht verzögern. Sie unterstützt Todgeweihte darin, ihr Leben bis zum Ende so aktiv wie möglich zu gestalten. Und: Sie wird nicht erst in den letzten Lebenstagen angewendet, sondern oft schon früh im Verlauf einer unheilbaren Krankheit. Sie kommt nicht erst zum Einsatz, wenn alle medizinischen Therapien gescheitert sind, sondern ergänzt diese.
Fazit: Der schnelle und der sanfte Weg
Die Sterbehelfer von Exit und Dignitas beschränken sich darauf, uns nach eingehenden Gesprächen und von uns bestimmter Bedenkzeit, den Giftbecher anzubieten. Als Todeswillige haben wir ihn selbst einzunehmen. Im Gegensatz zu palliativmedizinischen Massnahmen führt er den Tod gezielt und schnell herbei.
Dagegen bietet die Palliativmedizin den Menschen an, sich dem Schicksal schrittweise und vergleichsweise unaufgeregt zu fügen. Zwischen spitzenmedizinischer Lebenserhaltung und assistiertem Freitod stellt sie einen «gesunden» Mittelweg dar.
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