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Gesellschaft

Von Krüppeln, SchiNos und Tunten

Die Nachsicht gegenüber Minderheiten nimmt wieder ab

Die Nachsicht gegenüber Minderheiten nimmt wieder ab

Wir und nicht die Weissen sind die Schönsten, verkündete die Bewegung "Black is beautiful".

Um zu verstehen, wo wir heute stehen, lohnt sich meistens ein Blick zurück: Ab den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts begannen sich alle zu wehren, die einer Minderheit angehörten. Sie waren auf der Suche nach neuer Identität und wollten Ungerechtigkeiten beseitigen. Ein Beispiel ist die emanzipatorische Bewegung «Black is beautiful» in den USA. Afroamerikaner lehnten sich mit diesem Slogan gegen Vorurteile und Diskriminierung auf: Die Schwarzen sind genau so wunderbare Menschen wie die Weissen – wer weiss, vielleicht sogar noch schöner? – verkündeten sie. Klaus Wowereit zielte 2001 in dieselbe Richtung, als er sagte: «Ich bin schwul, und das ist auch gut so.» Vielleicht sogar besser? Das berühmt gewordene Zitat des späteren Berliner Bürgermeisters deutet diesen Gedanken unterschwellig an.

Schwul ist gut, sagte der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit

In der Berner Behindertenszene entwickelte sich Ende der siebziger Jahre der Begriff «SchiNo». Er ist der Kürzel für «schiss-normal» bzw. scheissnormal. Wir, die Behinderten, sind eben nicht scheissnormal, sondern haben euch, SchiNos, in mancher Hinsicht etwas voraus. Auch Forderungen, die Invalidenrenten müssten existenzsichernd sein, wurden laut. 1979 kam der Schweizer Film «Behinderte Liebe» von Marlies Graf Dätwyler in die Kinos. Auch wir, die Behinderten, verstehen was von Sex, war die tabubrechende Botschaft. Ebenfalls in den siebziger Jahren bildete sich im italienischen Triest das Konzept der offenen Psychiatrie. Es stiess auf derartigen Anklang, dass das italienische Parlament 1978 mit einem neuen Gesetz die Schliessung psychiatrischer Kliniken verfügte. Das wiederum hallte in ganz Europa nach. Anhänger des neuen Therapieansatzes gaben zu bedenken, dass Psychiatriepatienten eben nicht krank, sondern im Gegenteil besonders originell sind. Deshalb fürchtet sie die Gesellschaft und sperrt sie ein. Das muss aufhören, forderten sie.

Szene aus dem Film "Behinderte Liebe" von 1979. Er war Ausdruck von Emanzipation.

Die westlichen Gesellschaften haben sich in den siebziger Jahren gegenüber ihren Minderheiten geöffnet und sie mitunter sogar idealisiert. Entsprechend sind unsere Gemeinwesen toleranter, solidarischer und demokratischer geworden. Bis heute schlägt sich die veränderte Grundhaltung auch sprachlich nieder: Abschätzige Ausdrücke wie illegale Einwanderer, Krüppel, Spinner, Tunte, aber auch Schwarze und erst recht Neger wichen nach und nach respektvolleren Bezeichnungen. 1978 erhielt Spanien, die letzte Diktatur Westeuropas, eine demokratische Verfassung. Artikel 49 sieht explizit die Gleichstellung Behinderter vor. Die USA haben sich 1990 ein umfassendes Behindertengleichstellungsgesetz verschrieben. In der Schweiz diente es den Initianten als Vorbild für ihre Initiative «Gleiche Rechte für Behinderte». Das Volk hat sie 2003 mit einem Nein-Stimmen-Anteil von 62 Prozent abgelehnt. Schliesslich hat sich der Geist aus den siebziger Jahren mit grosser Verzögerung und durch Kompromisse verdünnt doch noch durchsetzen können: Am 1. Januar 2004 trat das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft.

Aus dem urdemokratischen Gedanken der Gleichstellung aller entstand in Europa die Inklusion als visionäres Fernziel, das die gelebte Praxis der Integration überwinden soll. Dabei sind Selbstbestimmung und Eigenständigkeit wichtige Teilziele. Die folgerichtige Umstellung von der Objekt- zur Subjektfinanzierung hilft, sie zu erreichen. Deshalb haben in der Schweiz Menschen mit Behinderung als «Subjekte» seit 2012 Anspruch auf Assistenzbeiträge, wenn sie eigenständig leben und nicht bzw. nicht mehr in einem «Objekt», also einem Heim, wohnen. Auf ganz anderen Wegen als ursprünglich gedacht sind wir so dem Wunsch nach existenzsichernder Unterstützung näher gekommen.

Nun will es aber der Lauf der Geschichte, dass seit etlichen Jahren ausgerechnet die ehedem verulkten SchiNos in allen Industriestaaten wieder vermehrt auf das Tapet treten und zur Betonung ihrer Identität lautstark poltern. Sie seien die Wahrhaften, sie seien die Mehrheit und die soliden Stützen unserer Gesellschaften, während sich die unproduktiven Vertreter von Minderheiten zu viel herausnehmen und schlicht zu teuer seien. Hämisch bespotten sie die Sprache der politischen Korrektheit und halten sich bewusst an eine derbere Ausdrucksweise.

Unter dem Einfluss dieses politischen Wandels trat 2008 die fünfte IV-Revision in Kraft, 2012 folgte die sechste. Spitz formuliert, zielen die Revisionen darauf ab, den Zugang zu Invalidenrenten zu erschweren. Im Gegenzug laden sie Behinderte höflich, aber bestimmt dazu ein, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten im Erwerbsleben einzugliedern – wie die rechtschaffenen SchiNos! Seit dem Spitzenjahr 2003 mit 28'000 hat sich die Zahl der Neurenten bis 2012 halbiert und sich seither auf dem Stand von rund 14'000 eingependelt. Auch auf internationaler Ebene erleben wir gegenläufige Entwicklungen: Die paralympischen Spiele 2012 in London waren im Sinne der Gleichstellung auch medial eine erfreuliche Veranstaltung. Im selben Jahr ist aber in den USA die Ratifizierung einer UNO-Konvention zur Gleichstellung Behinderter gescheitert. Ein Grossteil der republikanischen Senatoren war dagegen.

Der Geist der Siebziger lebt zwar noch, aber er ist geschwächt und muss sich gegen andere Geister behaupten. Wir tun gut daran, uns dessen bewusst zu sein und uns entsprechend einzurichten. Gesellschaften sind gegenüber Schwächeren und Minderheiten nur so lange grossherzig, wie sie glauben, sich das leisten zu können. Fühlen sie sich verunsichert, drehen sie das Rad zurück.

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