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Gesellschaft

Warten heisst Leben

Wenn wir warten, schimpfen wir und vergessen dabei: Wer wartet, freut sich auf etwas.

Warten zum Ersten

Morgens warte ich, bis der spastische Tonus nachlässt. Erst dann kann ich katheterisieren. Ich warte, bis das Abführzäpfchen wirkt. Ich warte, bis ich mich waschen, anziehen und endlich rausgehen kann.

Dann warte ich, bis der Lift kommt. An der Haltestelle warte ich, bis das Tram kommt. Endlich am Ziel, warte ich, bis sie mir die Türe öffnen, abends im Schauspielhaus, bis die Hintertüre zum Saal freigegeben ist.

Ich warte vor dem Restaurant, bis sie den rollstuhlgängigen Seiteneingang öffnen, am Stammtisch, bis mir Mona, die charmante Kellnerin, meinen Schlummertrunk bringt. Er hilft, den wieder hohen Tonus langsam zu senken.

Warten zum Zweiten

Zwölf Wochen lang wartete ich 2021 in der Klinik, bis der eingebrochene oberste Lendenwirbel wieder halbwegs stabil war. Ich durfte ihn nicht belasten, musste mir helfen lassen. So wartete ich immer, bis die Pflege kam.

Tag und Nacht, wie damals, 1977: Da waren zwei Wirbel verletzt und drückten auf das Rückenmark: Zwölf Wochen musste ich liegend warten, bis sie zusammengewachsen waren, warten auch, ob sich das verletzte Rückenmark erholen würde.

rollstuhlfahrerin vor treppenstufen

Im Alltag müssen wir häufig warten, warten und nochmals warten – zum Beispiel, bis wir an unser Ziel gelangen.

Und heute?

Heute warte ich seit Wochen auf die Genesung meiner kranken Frau. Anfang 2025 sollte es so weit sein: «Ich erwarte, dass Sie im Januar, Februar, spätestens März geheilt sind», versprach ihr die Onkologin. «Ich hoffe es und warte so lange», antwortete meine Frau betrübt. «Das Schlimmste haben Sie bereits hinter sich, haben tapfer zugewartet und die strapaziöse Chemotherapie wirken lassen», tröstete sie die Ärztin.

Jetzt warten wir beide. Das ist nicht einfach, ich mit einer Tetraplegie, sie mit einem Tumor. Immerhin, er ist heilbar, die Tetraplegie nicht, jedenfalls nicht ganz. 1977 hat sich mein Rückenmark teilweise erholt, mich für das Warten belohnt.

Wer wartet, lebt

Buddha, der weise indische Prinzensohn, sagte vor rund 2500 Jahren: «Leben ist Leiden». Auch richtig wäre, so scheint es uns manchmal: «Leben ist Warten.» Wir warten zu, wir warten ab. Immer und überall warten wir auf etwas, denn wir erwarten etwas, wir erhoffen etwas, wir freuen uns auf etwas. Warten heisst also: Das Leben geht weiter.

buddha statue

«Leben ist Leiden», hat Buddha gesagt. Ist es nicht auch Warten?

Wenn wir gerade nicht warten, geht alles so schnell, dass wir froh sind, wenn wir wieder warten dürfen. Dann nutzen wir die Zeit, um in uns zu gehen und uns zu fragen, was wir als nächstes wollen. Bis es so weit ist, müssen wir wieder warten, uns bemühen, vielleicht auch leiden.

Wer wartet, ist verlangsamt

Wer körperlich beeinträchtigt ist oder leidet, erlebt auch den Alltag geduldig wartend: Der geschundene Körper kann nicht hetzen, nicht einmal beschleunigen. Er zwingt uns zur Einsicht: Je langsamer, desto besser und schneller geht’s. Alles braucht seine Zeit. Wir sind verlangsamt, müssen immer abwägen, was wir wie erreichen – und sei es nur das Bierglas, das oben auf dem Tresen steht.

mann im treppenlift

Treppenlifte bewegen sich quälend langsam. Auch dort verbringen wir viel Zeit mit Warten.

Wir können uns trösten: Wer nicht warten kann, wird rastlos; wer rastlos ist, freut sich auf nichts, freut sich über nichts, ist unzufrieden und lebt am Leben vorbei. – Stimmt das?

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