Zum Jahresbeginn dürfen wir uns und unsere Mitstreiter alle bejubeln.
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- 06. Januar 2020
- fritz
Zum Jahresbeginn dürfen wir uns und unsere Mitstreiter alle bejubeln.
In Dudens Deutschem Universalwörterbuch lesen wir zum Begriff «Vorbild» Folgendes: «Person oder Sache, die als [idealisiertes] Muster, als Beispiel angesehen wird, nach dem man sich richtet.»
Am 8. Dezember 2019 kürte die Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) zwei solche Vorbilder. Sie sind «Querschnittgelähmte des Jahres». Ausgewählt wurden sie von einer Jury um Daniel Joggi, Präsident der Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS), Hans Peter Gmünder, Direktor des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ), Guido A. Zäch, Gründer und Ehrenpräsident der SPS, Heinz Frei, Präsident der Gönner-Vereinigung der SPS, sowie Urs Styger von der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung (SPV).
Die Geehrten sind die Paraplegikerin Ursula Schwaller und der Tetraplegiker Peter Lude. Sie sind gemäss Jury wichtige Vorbilder, nach denen wir uns als ebenfalls betroffene Querschnittgelähmte richten können. Sie sind der 27. Jahrgang, nachdem Heinz Frei 1994 erstmals den Titel verliehen bekam.
Die Ehrung im SPZ Nottwil war schön eingebettet in das alljährliche Adventskonzert. Junge Künstler des Internationalen Opernstudios Zürich traten auf und vermittelten mit anmutigem Klavierspiel und wundersam vorgetragenen Arien Opern-Atmosphäre.
Hunderte von Besuchern strömten in die Aula, unter ihnen natürlich viele auf Rädern. Für sie ist der Anlass fast ein Ritual. Bewusst kommen sie etwas zu früh und verweilen hinterher beim traditionellen Würstchenessen. Sie treffen alte Bekannte, seien es Rollstuhlfahrer oder vertraute Mitarbeitende der Klinik. Vielleicht stossen sie auch auf sympathische und inspirierende Menschen, die sie zuvor nicht kannten.
Für viele scheinen die geehrten, gemäss Duden-Verlag «idealisierten Muster» nur ein Vorwand zu sein, um sich zu einem gemütlichen, auch besinnlichen sonntäglichen Stelldichein zu begeben. Von der Freiburger Architektin und Spitzensportlerin Schwaller und vom Aargauer Psychotherapeuten und Buchautor Lude war jedenfalls kaum mehr die Rede. Sie gehörten zu den Vielen, auch wenn sie an Ehrentischen sassen.
Wahrscheinlich ist das gut so, das einzig Richtige sogar: Wir stehen gar nicht im Wettbewerb zueinander, sondern rollen alle im Einklang durchs Leben, durchs Jahr 2020, das eben begonnen hat. Jeder auf seine Weise und im Rahmen seiner Möglichkeiten. Wir brauchen immer wieder Orientierungshilfe, Vorbildliches hilft uns weniger.
Wir alle wissen: Die Verletzungsstelle im Rückenmark bestimmt, ob sich Welten eröffnen oder verschliessen. Schon ein Millimeter kann entscheidend sein. Bei gleicher Diagnose bewegt der eine Daumen und Zeigefinger, der andere nicht einmal das, der eine hat noch verbliebene Sensibilität, der andere gar keine mehr.
Sehr vergleichbar verhält es sich mit dem sozialen und therapeutischen Umfeld. Fehlt auch nur eine einzige wichtige Bezugsperson oder ist sie in ihrem Können nur mittelmässig, ergibt sich ein ganz anderer Verlauf der Rehabilitation und des späteren Lebens.
Die Jury ehrte dieses Jahr mit Peter Lude den Entdecker des airbag effects. Als klinischer Psychologe wies er nach, dass die traumatische Rückenmarkverletzung bei den Allermeisten von uns ungeahnte Energien freisetzt. Die schiere Not bewirkt, dass wir uns auflehnen, statt in Wehmut zu versinken. Dieser Prozess setzt fast so unwillkürlich ein wie die viel beklagte Spastik.
Ludes These bedeutet etwas spitz formuliert: Jeder gibt wie von selbst und ohne langes Abwägen sein Bestes, das ihm mögliche Maximum, um mit den Folgen der eingetretenen Querschnittlähmung umgehen zu können. Daraus dürfen wir, wie ich meine, durchaus folgern, dass im Grunde alle Querschnittgelähmten «Querschnittgelähmte des Jahres» sind – und zwar jedes Jahr von Neuem.
Der Jahresbeginn ist die Gelegenheit, das mal auszusprechen. Er ist auch Gelegenheit, all die zu ehren, die uns unterstützen, seien es Partner, Angehörige oder Pflegende. Begrüssen wir, «Querschnittgelähmte des Jahres», sie als unsere «Mitstreiter des Jahres».
In diesem Sinne wünsche ich euch allen ein gutes neues Jahr – in Harmonie mit euch selbst und den Euren.
Mehr über Ursula Schwaller:
Mehr über Peter Lude und seine Bücher:
- https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/zurzach/querschnittlaehmung-nach-koepfler-wie-peter-lude-sich-danach-neu-entdeckte-130175207
- https://www.springer.com/de/book/9783662479698
- https://www.lehmanns.ch/shop/medizin-pharmazie/29859944-9783037840450-warum-das-leben-weitergeht-auch-im-alter-und-mit-behinderung
Pressemitteilung der SPS zum Adventskonzert vom 8. Dezember 2019: