Mehrere Pilotprojekte ermöglichen die Einbindung von Menschen mit Behinderung in die Schweizer Armee
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- 29. November 2021
- Caterina
Mehrere Pilotprojekte ermöglichen die Einbindung von Menschen mit Behinderung in die Schweizer Armee
Die Themen Diversität und Inklusion sind in den letzten Jahren gesellschaftlich relevanter geworden. Auch im Schweizer Militär hält diese Entwicklung allmählich Einzug. Das ist wichtig, denn aufgrund der allgemeinen Dienstpflicht gilt das Militär als Abbild der Schweizer Gesellschaft.
Im Jahr 2019 wurde die Fachstelle Diversity Schweizer Armee gegründet. Sie ist zuständig für alle Fragen rund um die Themen Diversität und Minderheiten in der Schweizer Armee. Sie schafft Grundlagen dafür, dass alle Milizangehörigen ihren Militärdienst erfolgreich leisten können – unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, ethnischer Herkunft, Religion, Physiologie etc.
Warum bekennt sich die Schweizer Armee nach so vielen Jahren nun zur Diversität? Luc Bruttin, Projektleiter Diversität in der Schweizer Armee, zog vor kurzem eine Zwischenbilanz zur Diversität in der Armee. Darin schreibt er:
«Das Potenzial der Diversität muss voll ausgeschöpft werden, denn es spielt eine wesentliche Rolle für die langfristige Tragfähigkeit der Armee und deren Attraktivität gegenüber der Bevölkerung.»
Die Inklusion stellt die Dienstwilligen wie auch das Militär teilweise vor Herausforderungen. Doch in diesem Jahr gab es mehrere erfreuliche Nachrichten. So wurde im Frühling Nouh Arhab zum ersten querschnittsgelähmten Rekruten in der Geschichte der Schweizer Armee. Zudem nahm die Armee mehrere Sportler in die Spitzensportförderung auf. Solche Fortschritte erfordern jedoch oft viel Willenskraft und Ausdauer, wie das Beispiel von Nouh Arhab zeigt.
Erster Rollstuhl-Rekrut im Schweizer Militär
Der 21-jährige Arhab aus Lausanne wurde mit Spina bifida geboren und ist auf den Rollstuhl angewiesen. Er war motiviert, Militärdienst zu leisten. Doch der zuständige Militärarzt bat ihn nicht einmal ins Zimmer und sagte ihm schon an der Türschwelle, dass er nicht diensttauglich sei.
«Ich habe immer akzeptiert, behindert zu sein. Aber nichts ist unmöglich. Es gibt immer einen Weg, um Behinderungen in die Aktivitäten der Nichtbehinderten einzubauen.»
Der junge Mann wehrte sich gegen den Entscheid. Er legte drei Rekurse ein, die alle abgelehnt wurden. Beim vierten Rekurs wurden die Fachstelle Diversity Schweizer Armee und vier Ärzte aus verschiedenen Fachgebieten hinzugezogen. Nach mehr als 18 Monaten wurde Arhab doch noch als diensttauglich eingestuft.
So trat Arhab im März 2021 als Rekrut den Dienst in der Kaserne in Payerne VD an. Er begann als Betriebssoldat in der Logistiktruppe. Damit er gut zurechtkommt, wurde seine Arbeitsumgebung organisatorisch angepasst, u. a. sein Raum, die Duschen und die Logistik der Mahlzeiten.
Armee-Sprecher Daniel Reist bestätigt, dass Arhab der erste Rekrut der Schweiz im Rollstuhl ist. Er bezeichnet dies als Pilotprojekt, mit dem die Schweizer Armee eine Öffnung anstrebe.
Mittlerweile hat Arhab den Grad eines Soldaten erreicht. Er fühle sich wohl in der Kaserne, sagt er. Die anderen dort würden seine Behinderung nicht mehr wahrnehmen. Allerdings gebe es manchmal unangenehme Situationen, wenn er mit dem Zug nach Hause fährt:
«Manche Leute denken, dass meine Uniform ein Kostüm sei und machen Bemerkungen. Ich antworte nicht und zeige ihnen meinen Marschbefehl.»
Rollstuhlsportler remilitarisiert
Ein weiteres Pilotprojekt ermöglicht es Rollstuhlsportlern, die Spitzensport-WK zu absolvieren. («WK» sind die «Wiederholungskurse» in der Armee, die Schweizer Bürger in den Jahren nach der Rekrutenschule regelmässig absolvieren müssen.) Seit Frühling 2021 kommen erstmals auch drei Rollstuhlsportler in den Genuss der Spitzensportförderung der Schweizer Armee: Luca Olgiati (Badminton) aus Hausen AG, Pascal Christen (Ski alpin) aus Kriens LU und Louka Réal (Basketball) aus Pully VD.
Ihre Situation ist eine andere als bei Nouh Arhab: Alle drei hatten die Rekrutenschule (RS) bereits vor ihrer Behinderung absolviert. Dann wurden sie durch einen schweren Unfall gelähmt und dienstuntauglich. Mit der Aufnahme in die Spitzensport-WK wurden sie nun remilitarisiert.
Die drei Rollstuhlsportler profitieren nun im Rahmen der Spitzensportförderung von bis zu 130 bezahlten WK-Tagen pro Jahr für Training und Wettkämpfe. Diese absolvieren sie hauptsächlich im Kompetenzzentrum Sport der Armee in Magglingen BE. Die Förderung ist eine grosse Erleichterung für ihre Vorbereitung auf die Paralympics 2022 in Peking bzw. 2024 in Paris.
«Einerseits fühle ich mich geehrt, zu den ersten Rollstuhlsportlern zu gehören, welche WK-Tage leisten können. Andererseits ist die Integration von Sportlern wie mir in die Spitzensportförderung der Armee auch aus Sicht der Inklusion wichtig und richtig.»
In den diesjährigen Ausgaben der Zeitschrift «Paracontact» gibt es eine vierteilige Serie zur Spitzensportförderung der Schweizer Armee. Darin werden auch Luca Olgiati, Pascal Christen und Louka Réal porträtiert.
«Die Unterstützung durch die Armee erlaubt es mir, mehr Zeit ins Training zu investieren und erzeugt weniger Stress in Bezug auf meine Ausbildung.»
Louka Réal (S. 36)
Erstmals zwei Sportler mit Behinderung in der Spitzensport-RS
Zusätzlich zu den Spitzensport-WK wurde auch die Spitzensport-RS (Rekrutenschule) für Sportler mit einer Behinderung geöffnet. Im November 2021 traten erstmals eine Sportlerin und ein Sportler mit Behinderung in die Spitzensport-RS in Magglingen ein: Elena Kratter (Leichtathletik) aus Vorderthal SZ und Fabian Recher (Handbike) aus Spiez BE. Die beiden können nun 18 Wochen lang trainieren und erhalten Erwerbsersatz und regulären Sold.
Elena Kratter hat aufgrund von Geburtskomplikationen eine Prothese am rechten Unterschenkel. Die 25-Jährige arbeitet selbst als Orthopädietechnikerin und stellt ihre eigenen Prothesen her. Sie trainiert jeden Tag, wenn es ihr mit der Arbeit möglich ist. Bei ihren ersten paralympischen Spielen in Tokio dieses Jahr holte Kratter eine Bronzemedaille im Weitsprung.
Auch Fabian Recher hat nun die Möglichkeit, mehr Zeit ins Training zu investieren. Der 22-Jährige mit Spina bifida ist zweifacher Schweizermeister im Handbike. Bei seinen ersten Paralympics in Tokio erreichte er zwei Diplome. Neben dem Sport arbeitet er als Kaufmann. Bereits vor vier Jahren wollte er in die Spitzensport-RS. «Da sagte man mir: keine Chance!», erzählt er. Nun fand in der Armeeführung offenbar ein Umdenken statt.
Sogar das SRF begleitete den Start der beiden RS-Spitzensportler. Im Video auf dieser SRF.ch-Seite oben seht ihr, wie sie die ersten Tage erlebt haben. Fabian Recher bloggt auch selber regelmässig im Newsletter von Rollstuhlsport Schweiz über seine Zeit in der RS.
Nach der Spitzensport-RS werden die beiden ebenfalls die Möglichkeit haben, jedes Jahr 130 Spitzensport-WK-Tage zu absolvieren. So könnten sie weiterhin professionell für die Paralympics 2024 in Paris trainieren – und im besten Fall Medaillen für die Schweiz holen. :-)
Mit Durchhaltewillen zum Ziel
Für die Aufnahme von Menschen mit Behinderung in die Spitzensport-WK und die Spitzensport-RS brauchte es bei der Armee viel Überzeugungsarbeit. Wie bei Nouh Arhab musste zuerst der militärärztliche Bereich überzeugt werden, der den Entscheid «tauglich» oder «nichttauglich» fällt. Zum anderen waren Fragen der Militärversicherung zu klären.
«Pionier» dieser Entwicklung war der oberschenkelamputierte Radrennfahrer Roger Bolliger. Im Jahr 2018 fragte ihn René Ahlmann, damals Kommandant des Kompetenzzentrums Sport der Armee, ob er einmal Militärdienst geleistet habe. Bolliger antwortete «Ja» – so begann ein Pilotprojekt, um behinderte Sportler in die Spitzensportförderung der Armee aufzunehmen.
«Vielleicht werde ich der erste und letzte Soldat in einem Rollstuhl sein. Oder vielleicht werden nach mir noch viele andere kommen.»
Die vorgestellten drei Entwicklungen in diesem Jahr sind erste Schritte in Richtung Inklusion von Menschen im Rollstuhl ins Schweizer Militär. Für ein generelles Umdenken braucht es viel Einsatz und Ausdauer von beiden Seiten. Doch die Zeichen stehen gut, dass aus Pilotprojekten künftig reguläre Möglichkeiten werden können. Und dass Nouh Arhab nicht der einzige Rollstuhlfahrer bleibt, der für die Schweiz Armeedienst leisten kann.
Was denkt ihr über die Öffnung der Schweizer Armee hin zu mehr Inklusion? Ist der Schritt überfällig oder ist das Militär nur etwas für Fussgänger?