Mit myPeer schafft Therese Kämpfer ein Coaching, das für alle Arten von Krankheit, Sucht oder Schicksalsschlag da ist.
- 5 Minuten Lesezeit
- 12. Februar 2025
- Christine Zwygart
«Schämen sich deine Kinder für dich?» «Wie kommst du mit deinem Rollstuhl in ein Flugzeug?» «Hast du noch ein erfülltes Sexleben?» Die Fragen, die Therese Kämpfer als Peer-Coach im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) hörte, waren vielfältig und mitten aus dem Leben gegriffen.
Vor 20 Jahren hat die Tetraplegikerin dort begonnen, frisch querschnittgelähmte Menschen mit Rat und Tat zu unterstützen. «Das Angebot ist aus einem Bedürfnis heraus entstanden», erzählt die 66-Jährige. Sie war damals im Qualitätsmanagement des SPZ tätig. In diesem Rahmen führte sie Interviews mit Patientinnen und Patienten vor dem Austritt aus der Klinik, um mehr über deren Zufriedenheit und den Nutzen der Rehabilitation zu erfahren.
Doch die Klinikärzte fragten regelmässig, ob sie auch mal mit Patientin X oder Patient Y sprechen könnte – diese hätten spezifische Fragen zu Themen wie Mobilität, Familienleben oder Wohnungseinrichtung.
Seit über 20 Jahren leistet Therese Kämpfer wertvolle Peer-Arbeit und gibt ihr Wissen nun auch an Kursen weiter.
Der Verein myPeer will das Peer-Coaching revolutionieren
Was einst im SPZ klein begann, hat sich heute zu einer schweizweiten Bewegung entwickelt – dank Therese Kämpfer und ihrer Tochter Alexandra. Die beiden Frauen haben im Februar 2021 den Verein myPeer gegründet und sich zum Ziel gesetzt, die Peer-Arbeit in der Schweiz zu revolutionieren.
Ihre Vision: Peers sollen im Gesundheitswesen zu einem festen Bestandteil von interdisziplinären Teams werden und Betroffenen zur Seite stehen. Denn Peers sind Experten aus Erfahrung – ihr Wissen und Verständnis sind von enormem Wert. «Für uns war immer klar, dass dies für jede Art von Krankheit, Sucht oder Schicksalsschlag gilt», sagt Therese Kämpfer.
Wenn Menschen verunfallen oder schwer erkranken, stellen sich ihnen tausend Fragen. Vielleicht ist ihre Existenz bedroht oder sie zweifeln, ob ein sinnerfülltes Leben noch möglich ist. Wer selber einst die gleiche Erfahrung gemacht hat, kennt diese Ängste bestens.
«Die medizinische Versorgung in der Schweiz ist sehr gut. Doch oft mangelt es an kompetenter Lebenshilfe.»
Therese Kämpfer, Präsidentin myPeer
Der Verein myPeer bildet professionelle Coaches fürs Beraten und Begleiten aus: «Denn die eigene Betroffenheit alleine reicht dafür nicht aus.» Gesprächsführung, Gedanken reflektieren, Datenschutz einhalten, eigene Grenzen setzen, Werte kennen und für diese einstehen – das alles sind Themen, die bei der Ausbildung zur Sprache kommen.
Die vier myPeer Coaching-Kurse pro Jahr sind bis auf den letzten Platz ausgebucht.
Über 160 Personen mit verschiedensten Beeinträchtigungen oder Schicksalsschlägen haben seit 2022 bereits einen Lehrgang absolviert. Darunter sind Menschen mit Burnout oder Depressionen, mit verschiedenen Krankheiten wie Multiple Sklerose, Krebs oder psychischen Problemen, mit Alkoholsucht, Blindheit oder den Folgen eines Schlaganfalls, sowie Menschen, die ein Kind oder einen Partner verloren haben.
Was sie dazu bewogen hat, die Ausbildung zu absolvieren, erzählen Teilnehmende in diesem Video:
Peer-Arbeit in der Praxis
Eine der Absolventinnen ist Andrea Zemp. Sie ist Pflegefachfrau HF und Mutter von drei Kindern. Ihre Tochter ist als Frühgeburt und mit einer Spina bifida auf die Welt gekommen: «Als betroffenes Mami möchte ich gern mein gesammeltes Wissen weitergeben und mit anderen Eltern eine Lösung suchen, die genau zu ihrer Situation passt.»
Erkrankt ein Kind oder hat eine Behinderung, sei das Beraten und Begleiten der Eltern zentral, doch leider fehle im Spital oft die Zeit für diese wichtige Arbeit. «Ich schätze den Austausch sehr. Es ist schön, wenn eine Familie dank der Beratung etwas findet, das sie finanziell, psychisch oder physisch entlastet.»
Dank der Peer-Arbeit gehen die vielen wertvollen Informationen nicht verloren – künftige Generationen von Eltern profitieren davon. Das ist Andrea Zemp wichtig, deshalb stellt sie auch eine Liste mit nützlichen Links zur Verfügung.
Andrea Zemp unterstützt Eltern von Frühgeborenen und von Kindern mit Spina bifida.
Betroffene mit ihrem Schicksal nicht alleine lassen, dafür setzt sich auch Monika Rolli ein. Sie erhielt vor neun Jahren die Diagnose Multiple Sklerose und bietet heute Reiki-Behandlungen und Peer-Arbeit an: «Ich zeige Menschen mit chronischen und somatischen Erkrankungen und ihren Angehörigen neue Perspektiven auf, um mit den herausfordernden Lebenssituationen zurechtzukommen und ihr Wohlbefinden zu stärken.»
Bereits vor der myPeer-Ausbildung war Monika Rolli als Beraterin tätig. Mittlerweile hat sie ihre eigene Praxis aufgebaut, arbeitet zudem als Lehrbeauftragte und Peer-Gast-Dozentin an verschiedenen (Hoch-)Schulen und Institutionen.
Für sie steht der Mensch mit seiner Gesundheit im Mittelpunkt, und nur das zähle: «Die Peer-Arbeit bietet im Gesundheitswesen eine andere Sichtweise, die von grossem Mehrwert für Betroffene wie auch für medizinische Fachleute ist.»
Monika Rolli ist für Menschen mit chronischen, psychosomatischen und Tabuthemen da.
Es braucht mehr Unterstützung aus der Politik
Vier Jahre myPeer, das heisst auch vier Jahre Kampf um Anerkennung und Entlöhnung der Coaches. Therese Kämpfer ist stolz auf das Erreichte, weiss aber auch, dass der Weg noch lang ist: «Unfallversicherungen oder Krankenkassen sollten für die Peer-Arbeit aufkommen», ist sie überzeugt.
In der Realität gibt es bis heute keine Kostenträger – abgesehen von einzelnen Kliniken oder Organisationen. Um dies zu ändern, bräuchte es eine eidgenössisch anerkannte Ausbildung, deren Umsetzung myPeer kaum alleine stemmen kann. Deshalb wurde im Juni 2024 der Dachverband Peerarbeit gegründet.
«Um die positiven Effekte unserer Peer-Arbeit aufzuzeigen, müsste sie wissenschaftlich erforscht werden. Wir hoffen, ein solches Projekt in Angriff nehmen zu können.»
Therese Kämpfer
Alexandra Kämpfer und Ute John sind Berufsfachschullehrerinnen, Erwachsenenbildnerinnen sowie Pflegefachfrauen Intensivmedizin, dazu kümmern sie sich als Bildungsverantwortliche um die myPeer-Lehrgänge. Zusammen mit Ursula Gröflin und Dominique Hirschi unterstützen sie Therese Kämpfer bei der Vereinsarbeit.
«Wir sind stolz, dass die myPeer-Ausbildung so grossen Anklang findet und unsere vier Kurse pro Jahr bis auf den letzten Platz ausgebucht sind», sagt Alexandra Kämpfer. 2026 soll die neuntägige Ausbildung sogar um ein paar Tage erweitert werden, um sich noch intensiver mit den Inhalten auseinandersetzen zu können. Das myPeer-Team habe es geschafft, die Peer-Arbeit bekannter zu machen – wobei alle mit Herzblut, flexibel und kreativ unterwegs seien.
Alexandra Kämpfer und Ute John unterrichten während der myPeer-Ausbildung.
«Unsere Vision ist immer noch die gleiche wie am Anfang: Peers sollen ein fester Bestandteil des Gesundheitswesens werden», sagt Alexandra Kämpfer. Bei der Umsetzung sei es wichtig, gute Unterstützung auf politischer Ebene zu finden und gemeinsam mit anderen Organisationen vorwärtszukommen. «Damit Erfahrungswissen anerkannt und finanziell entlöhnt wird – und jede Institution die Peer-Arbeit in ihr Leitbild integriert.»
Peer-Angebote in der Schweiz
Wer einen Peer sucht, kann auf der eigens dafür eingerichteten Plattform «Peer Pool» des Vereins myPeer eine geeignete Person finden. Speziell für Menschen mit Querschnittlähmung bietet auch die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung Peerberatung an. Während der Erstrehabilitation erhalten Patientinnen und Patienten am Schweizer Paraplegiker-Zentrum Peer Support.
Wart ihr schon einmal bei einem Peer-Coach? Wir sind gespannt auf eure Erfahrungen.