Die erste «hindernisarme» Pilgerroute der Schweiz bietet spirituelle Impulse sowie faszinierende Bilder und Eindrücke.
- 6 Minuten Lesezeit
- 09. Oktober 2024
- Johannes
Der erste «hindernisarme» Jakobsweg der Schweiz führt über 160 Kilometer von Konstanz nach Einsiedeln. Zunächst geht es von Konstanz entlang des Untersees nach Schaffhausen und zum Rheinfall. Von dort führt der Weg zur Musik- und Klosterinsel Rheinau und durch die Stadt Winterthur. Weiter geht es durch das Zürcher Oberland nach Rapperswil, einem Knotenpunkt der Jakobswege in der Schweiz. Über Feusisberg und Tüfelsbrugg führt der Weg hinauf zum Ziel: dem Klosterdorf Einsiedeln mit der Schwarzen Madonna.
Mit dem Rollstuhl auf heiligen Pfaden
Wer pilgert, unternimmt eine Reise zu einem heiligen Ort. Dafür braucht ein Pilger, eine Pilgerin mehrere Tage oder Wochen, und ist dabei in der Regel zu Fuss unterwegs. Pilgern ist in vielen Religionen verbreitet: im Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus. «Pilgern ist beten mit den Füssen.»
Und das Pilgern mit seiner langen Geschichte liegt wieder im Trend. Besonders seit dem Buch «Ich bin dann mal weg», das der TV-Entertainer Hape Herkeling 2006 über seine Pilgerreise auf dem Jakobsweg geschrieben hat. So pilgern inzwischen auch viele Nichtgläubige.
Die Ziele einer Pilgerreise sind vielfältig: Manche möchten Gott finden, manche sich selbst. Andere wollen sich befreien, sich auf den Glauben besinnen, Kraft schöpfen, bessere Entscheidungen treffen oder trauern können. Fast alle möchten ihren Alltag vergessen. Das Wichtigste dabei: Auf einer Pilgerreise ist der Weg das Ziel.
Vor einer Pilgerreise sind spirituelle, aber auch praktische Fragen zu klären:
- Wohin gehe ich?
- Warum gehe ich? Woher komme ich?
- Wie gehe ich?
- Wer geht mit?
- Was brauche ich auf dem Weg?
«Einzig die Richtung hat einen Sinn. Es kommt darauf an, dass du auf etwas zugehst, nicht dass du ankommst.»
Antoine de Saint-Exupéry, französischer Schriftsteller (1900–1944); entnommen von www.jakobsweg.de
Pilgern im Rollstuhl verspricht aussergewöhnliche Momente. (Quelle: https://santiagoways.com)
Ein «hindernisarmer» Jakobsweg für die Schweiz
Das Problem: Pilgerwege sind in der Regel nicht barrierefrei. In der Schweiz gab es bisher weder einen rollstuhlgängigen Jakobsweg noch einen barrierefreien Weg über mehrere Tagesetappen.
Die Initiative für den hindernisarmen Jakobsweg geht vom Verein Jakobsweg.ch aus. Unter dem Motto «Auf vier Rädern zur Schwarzen Madonna» hat er sich zum Ziel gesetzt, auch Menschen im Rollstuhl das Pilgererlebnis zu ermöglichen. Mitgetragen wird das Projekt u. a. von Rollstuhlsportlegende Heinz Frei und den Organisationen Procap, PluSport und der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung. Hier ein Audiobeitrag zum Projekt.
Das Logo des Schweizer Jakobswegs für Rollstuhlfahrende.
Was bedeutet nun «hindernisarm»? Gemäss Jakobsweg.ch würden die Normen von Procap für ein «selbstständiges» Befahren im Rollstuhl bauliche Massnahmen erfordern, die auf einer so langen Strecke nicht finanzierbar sind. Der Verein hat deshalb zusammen mit Betroffenen Kriterien für einen «hindernisarmen» Weg definiert. Hier die Übersicht:
- Damit der hindernisarme Jakobsweg «möglichst selbständig» befahrbar ist, haben ihn Rollstuhlfahrende persönlich getestet.
- Die einzelnen Etappen des Jakobswegs sind auf Jakobswegplus.ch mit ihren Barrieren, den genauen Beschreibungen der Strassenkategorien (Asphalt, Schotter, schmal, uneben, flach usw.) und dem erforderlichen Kraftaufwand aufgeführt.
- Die Website weist auf Umfahrungsmöglichkeiten und alternative Transportmittel wie Bahn oder Schiff hin. Ausserdem gibt sie Informationen zu Unterkünften und Toiletten.
«Es kommt niemals ein Pilger nach Hause, ohne ein Vorurteil weniger und eine neue Idee mehr zu haben.»
Thomas Morus, englischer Staatsmann und Humanist (1478–1535); entnommen von www.jakobsweg.de
Anstelle von Schotterwegen, wie sie auf Pilgerreisen häufig anzutreffen sind, schlägt Jakobswegplus.ch Umfahrungsmöglichkeiten und alternative Transportmittel vor.
Im Rollstuhl pilgern in Deutschland
In Deutschland gibt es bereits einige Pilgerwege für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen, aber auch für Rollator-Nutzer, Familien mit Kinderwagen und kleinere Kinder mit ihren Fahrrädern. Drei davon werden auf der Website handicap-life.com vorgestellt:
- die Franken-Schwaben-Route von Aschaffenburg nach Lindau
- die Hanse-Route von Stralsund nach Bremen
- die Luther-Route von der Lutherstadt Wittenberg in den Nationalpark Hainich
(Leider ist die Seite https://www.pilgern-bewegt.de/barrierefrei, auf der die Wege ausführlicher beschrieben waren, aktuell nicht mehr verfügbar.)
Neben diesen Routen gibt es noch den Himmelreich-Jakobusweg, der von Hüfingen über Freiburg i. Br. bis nach Weil am Rhein führt – hier ein Reisebericht.
Ausserdem hat Beate Steger das Buch «Pilgern für Alle – Barrierefrei unterwegs» über einen Pilgerweg durch die Pfalz von Worms nach Lauterbourg verfasst (hier mehr über das Projekt dieses barrierefreien Pilgerwegs).
In diesen Pilgerführern sind – neben den detaillierten Wegbeschreibungen und den Sehenswürdigkeiten – auch barrierefreie WCs, Übernachtungs- und Einkehrmöglichkeiten aufgeführt.
Pilgerwege führen oft durch reizvolle Landschaften. (Quelle: © Babett / https://www.jakobsweg.de)
(Quelle: © Sylvio Dittrich / https://www.saechsische-schweiz.de)
Tipps für eine erfolgreiche Pilgerreise im Rollstuhl
Die schweizerischen und deutschen Pilgerwege haben den Vorteil, dass sie näher liegen, gut ausgeschildert und mit dem Rollstuhl besser befahrbar sind. Doch wer die grosse Herausforderung sucht, kann sich auch auf den berühmtesten Pilgerweg Europas begeben: den «Camino Francés» (DE: «französischen Weg») nach Santiago de Compostela, zum Grab des Heiligen Jakobus.
«Nach Jerusalem wandert man, um Jesus zu finden, nach Rom geht man zum Papst, doch auf dem Pfad nach Santiago de Compostela sucht man sich selbst.»
Spanisches Sprichwort; entnommen von www.jakobsweg.de
Santiago Ways, ein spanischer Reiseveranstalter für den Jakobsweg, gibt Rollstuhlfahrern und -fahrerinnen folgende Tipps für eine Pilgerreise nach Santiago de Compostela:
- Eine ärztliche Untersuchung vorab. Pilgern im Rollstuhl ist eine sportliche Herausforderung.
- Aus demselben Grund sollte man sich durch Training vorbereiten – mindestens drei Monate vorher. Auch auf Schotter.
- Ersatzteile für den Rollstuhl mitnehmen. Der Jakobsweg ist lang, der Strassenbelag teilweise schlecht und man kann nicht jedes Teil überall kaufen.
- Ein Handbike statt einem normalen Rollstuhl kann die Pilgerfahrt sehr erleichtern.
- Das gleiche gilt für eine Begleitperson und/oder ein Begleitfahrzeug.
- Ein Rucksacktransportservice schont die Gelenke und erlaubt mehr Freiheit (wobei dieser Tipp des Reiseveranstalters nicht ganz uneigennützig ist 😉).
- Handschuhe beugen Blasen und Verhärtungen vor.
- Der Winter und die Regenmonate sind nicht gut geeignet, um den Jakobsweg im Rollstuhl zu absolvieren. Empfohlen werden der Frühling und der Sommer.
- Unterkünfte sollten reserviert werden, denn nicht alle öffentlichen Herbergen sind barrierefrei.
- An manchen Stellen des Jakobwegs empfiehlt sich der Weg im Rollstuhl entlang der Strecke der Radfahrer. Manchmal muss man auch die Landstrasse überqueren. Hier sollte man jeweils gut auf den Verkehr achten.
- Zudem empfiehlt der Reiseveranstalter, den Jakobsweg ab dem Ort Sarria zu beginnen, und bietet Hilfe bei der Organisation der Reise an.
Nach Santiago de Compostela im Rollstuhl – Erfahrungsberichte
Die deutsche Rollstuhlfahrerin Babett hat einen kurzen Erfahrungsbericht ihrer Pilgerreise nach Santiago de Compostela verfasst.
Ebenfalls dorthin gepilgert ist Felix Bernhard, der bekannteste Rollstuhlpilger im deutschsprachigen Raum. Tausende Kilometer hat er mittlerweile auf zahlreichen Jakobswegen zurückgelegt, u. a. durch Spanien, Portugal, Frankreich, Polen, Deutschland und Israel. Darunter war auch die «Via de la Plata»: der südliche, rund 1200 Kilometer lange und noch weniger touristische Jakobsweg von Sevilla nach Santiago.
Über diese Grenzerfahrung mit all ihren Hindernissen, aber auch über viele persönliche Widrigkeiten verfasste er das Buch «Dem eigenen Leben auf der Spur: Als Pilger auf dem Jakobsweg»; später erschien die Fortsetzung «Weglaufen ist nicht. Eine andere Perspektive aufs Leben». Hier gibt es eine Buchrezension, hier ein Interview mit Felix Bernhard.
Felix Bernhard unterwegs. (Quelle: Niels Starnick / https://www.bild.de)
Zum Schluss noch ein kurzes Video darüber, was eine Pilgerreise bedeuten kann. Die beiden US-Amerikaner Justin Skeesuck und Patrick Gray sind schon seit ewigen Zeiten befreundet. Gemeinsam sind sie auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela gepilgert. Dabei hat Patrick seinen Freund Justin geschoben – auch durch Matsch und Geröll, und oft mit der Hilfe von anderen Pilgern. Es könnte ihre letzte gemeinsame Reise sein, denn Justin leidet an einer unheilbaren Muskelkrankheit. Ein Film über Freundschaft, Familie und Nächstenliebe, der uns wahrlich zu Tränen gerührt hat:
«Sage nicht, wenn ich Zeit dazu habe, vielleicht hast du nie Zeit dazu. Wenn nicht jetzt, wann dann?»
Aus dem Talmud, einer der wichtigsten Schriften des Judentums; entnommen von www.jakobsweg.de
Wart ihr schon einmal auf einer Pilgerreise? Falls nein, würdet ihr gerne eine unternehmen?