Die Festival-Saison hat begonnen – aber können auch Menschen im Rollstuhl teilhaben? Wir sehen uns fünf grosse Schweizer Openairs genauer an
- 6 Minuten Lesezeit
- 22. Juni 2023
- Sima Pöschel
Die Tage sind wieder lang und warm, die Musikfestival-Saison ist im Gange. Sommer, Sonne, gute Musik und viele Leute, die mit einem gemeinsam die Musik geniessen. Ich persönlich bin ein grosser Fan von Musikfestivals. Sie sind für mich ein besonderer Ort der Freude und Freiheit, denn die meisten Menschen dort sind freundlich und offen und wollen einfach eine gute Zeit mit guter Musik haben.
Doch Festival bedeutet oft nicht nur Musik geniessen, sondern auch Campen, mit all seinen unkomfortablen Seiten. Gleichwohl wollen die Festivals für alle zugänglich sein und bezeichnen sich auf irgendeine Weise als «barrierefrei» oder «rollstuhlgerecht». Doch es gibt grosse Unterschiede – und denen möchte ich in diesem Beitrag auf die Spur gehen: Was bietet welches Festival an? So könnt ihr besser entscheiden, welches für euch in Frage kommt.
Folgende fünf – nach Datum sortierte – Festivals schauen wir uns an:
OpenAir St.Gallen
- 29. Juni bis 2. Juli 2023
- ca. 25’000 Besucher pro Tag
- gemischte Musikrichtungen
- Top-Acts 2023: Kraftklub, Lewis Capaldi, Macklemore
- Infos zur Barrierefreiheit: Website (unter Buchstabe R)
Das OpenAir St.Gallen hat eine lange Tradition und lockt mit seinem abwechslungsreichen Programm viele Musikfreunde an. An Menschen im Rollstuhl wird gedacht, doch können diese wortwörtlich im Regen stehenbleiben.
Was gibt es? Wer einen IV-Ausweis vorweisen kann, darf eine Begleitperson gratis mitnehmen; dies muss via Webseite beantragt werden. Es gibt Eurokey-WCs, Rollstuhlplattformen, einen gut zu erreichenden «Rollstuhlzeltplatz» und einen vergünstigten Taxiservice.
Was fehlt? Die Barrierefreiheit ist besonders bei schlechtem Wetter nicht gewährleistet. Auf der Website heisst es: «Bitte berücksichtige, dass das OpenAir St.Gallen auf einem offenen Gelände stattfindet. Je nach Wetter kann das Manövrieren eines Rollstuhles teilweise umständlich sein. Wir geben unser Bestes, möglichst viele Wege rollstuhlfähig zu machen und zu halten.» Zudem ist der VIP-Bereich nicht rollstuhlgängig.
Openair Frauenfeld
- 6. bis 8. Juli 2023
- ca. 60’000 Besucher pro Tag
- mehrheitlich Hip-Hop
- Top-Acts 2023: Kendrick Lamar, Stormzy, Travis Scott
- Infos zur Barrierefreiheit: Website (unter «Besucher:innen mit Behinderungen») und dieses Merkblatt
Das Openair Frauenfeld in der Nähe von Winterthur besticht durch sein vielseitiges Line-up und Surprise Guests. Doch auch hier muss man im Rollstuhl auf gutes Wetter hoffen.
Was gibt es? Auch bei diesem Festival kann eine Begleitperson kostenlos mit; die Buchung erfolgt über diese E-Mail-Adresse. Es gibt barrierefreie Toiletten, ein Rollstuhl-Podest und einen eigenen Campingbereich für Rollstuhlfahrer:innen. Zudem erhalten Personen im Rollstuhl Zugang zu den VIP-Bereichen. Die Veranstaltenden geben sich offen dafür, bei einer Anfrage an diese E-Mail-Adresse auch auf andere Behinderungen und Bedürfnisse einzugehen.
Was fehlt? Das Festivalgelände ist laut Website «grundsätzlich» rollstuhlgängig. Doch wortgleich zum OpenAir St.Gallen wird gewarnt, dass es im Rollstuhl bei schlechtem Wetter schwierig wird. «Direkter Zugang» zu gewissen Bühnen ist nur über eine Wiese möglich.
Gurtenfestival
- 12. bis 16. Juli 2023
- ca. 44’000 Besucher insgesamt
- gemischte Musikrichtungen
- Top-Acts 2023: Apache 207, Deichkind, Die Toten Hosen
- Infos zur Barrierefreiheit: Website («Rollstuhl» ins Suchfeld oben eingeben) und dieser Geländeplan
Das Festival findet auf dem Berner Hausberg, dem Gurten, statt. Auch dank der Zusammenarbeit mit der Stiftung Cerebral berücksichtigt es Personen im Rollstuhl vorbildlich.
Was gibt es? Behinderten-Taxis dürfen Rollstuhlfahrer:innen bei der Talstation der Gurtenbahn ausladen und abholen. Die rollstuhlgängige Standseilbahn führt direkt zum Festival. Auf dem Gelände gibt es zwei Eurokey-WCs, befahrbare Wege führen zu drei Rollstuhltribünen. Elektrorollstühle lassen sich kostenlos aufladen und eine mobile Werkstatt führt kleinere Reparaturen am Rollstuhl durch. Der telefonische Notfalldienst der Werkstatt soll vermeiden, dass man im Rollstuhl nicht mehr weiterkommt.
Ein weiteres Highlight ist der «Gurtä-Rollstuhl». Er ist an die spezielle Umgebung angepasst und meistert diverse Untergrundarten und Hindernisse. Die Buchung erfolgt direkt auf dem Festivalgelände.
Personen mit Beeinträchtigungen, die nicht im Rollstuhl sind, können über diese E-Mail-Adresse Kontakt aufnehmen.
Was fehlt? Anders als bei anderen Festivals darf keine Begleitperson kostenlos mit. Dafür erhalten Rollstuhlfahrer:innen 20 % Rabatt auf den Ticketpreis; Buchung über diese E-Mail-Adresse.
Paléo Festival
- 18. bis 23. Juli 2023
- ca. 300’000 Besucher insgesamt
- gemischte Musikrichtungen sowie Zirkus- und Strassenkunst
- Top-Acts 2023: Martin Garrix, Placebo, Rosalía
- Infos zur Barrierefreiheit: Website
Das Paléo Festival bei Nyon am Genfersee bietet eine breite Palette an internationalen und nationalen Musikern, Newcomern und Insider-Bands – und auch mit viel französischsprachiger Musik. Auf Barrierefreiheit wird grossen Wert gelegt.
Was gibt es? Eine Begleitperson darf ohne Anmeldung kostenlos mitkommen. Transport Handicap Vaud bietet innerhalb des Kantons einen behindertengerechten Transportdienst zu vergünstigten Preisen an. Zwei geteerte Wege führen durch das ganze Festivalgelände. Plattformen für Menschen mit Behinderung befinden sich gegenüber jeder Bühne. Die Standorte der fünf Eurokey-Toiletten sind auf der Webseite genau aufgelistet.
Ausserdem bietet das Paléo Festival Menschen mit Behinderung und ihren Begleitpersonen einen «Ort zum Entspannen». Dort können sie abseits des Tumults ausruhen, etwas essen oder gepflegt werden. Dazu stehen gemäss Website «spezifisches und angemessenes Material» sowie «Betreuung durch Fachleute aus dem Behindertenbereich» zur Verfügung.
Was fehlt? Der Behindertenparkplatz ist nicht geteert, aber «ganz nahe» beim Haupteingang.
Zürich Openair
- 22. bis 26. August 2023
- ca. 25’000 Besucher pro Tag
- gemischte Musikrichtungen
- Top-Acts 2023: Calvin Harris, Robbie Williams, The Killers
- Infos zur Barrierefreiheit: Website (unter «Allgemeine Informationen» und dann «Rollstuhlfahrer:innen»)
Das relativ junge Festival findet in der Nähe des Zürcher Flughafens statt. Punkto Barrierefreiheit besteht noch Luft nach oben.
Was gibt es? Ein grosses Plus ist die Erreichbarkeit mit dem ÖV. Die Linien werden vor allem von modernen Trams befahren, die im Rollstuhl leicht zugänglich sind. Auf dem Gelände sind rollstuhlgängige, speziell gekennzeichnete Toiletten vorhanden. Für die Mainstage gibt es eine Tribüne für Rollstuhlfahrer:innen und Begleitpersonen.
Was fehlt? Ähnlich wie bei den Festivals in St. Gallen und Frauenfeld wird hinsichtlich Beschaffenheit und Zugänglichkeit der Wege wenig versprochen: Es «wird versucht, möglichst viele Wege rollstuhlgerecht herzurichten», was alles und nichts heissen kann. Zudem gibt es keine kostenlosen Tickets für Begleitpersonen.
Fazit
Laut Gesetz sollen Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt und ohne gesellschaftliche Barrieren an allen Lebensbereichen teilnehmen können. Daran halten müssen sich auch private Anbieter von öffentlichen Dienstleistungen wie Festivals oder Open-Air-Konzerte mit ihren temporären Anlagen. Doch Erfahrungsberichte zeigen, dass dies oft nicht allzu ernst genommen wird. Unsichere Rampen, kaum zugängliche «behindertengerechte» Toiletten sowie nicht gar nicht erreichbare Nebenbühnen, Shops oder Bars sind eher die Regel als die Ausnahme.
Zwar scheinen sich alle fünf Festivals mit dem Thema Barrierefreiheit zu beschäftigen, doch mit der Umsetzung hapert es bei mindestens drei der Festivals. Mir ist bewusst, dass gerade Festivals auf freiem Gelände einige Herausforderungen bringen. Doch aus meiner Sicht machen es sich die Veranstalter:innen zu einfach, wenn sie darauf verweisen, dass das Gelände rollstuhltauglich ist, solange das Wetter schön ist – anstatt sich etwas einfallen zu lassen, wenn es regnet. Schliesslich haben die Menschen ein Ticket gekauft und können dies bei schlechtem Wetter nicht einfach zurückgeben.
Auch mehr und genauere Informationen für Menschen mit Behinderung wären wünschenswert. Wie viele Personen haben Platz auf den Rollstuhltribünen? Sind ausreichend behindertengerechte Toiletten vorhanden, so dass diese auch schnell und einfach zu erreichen sind? Kann man im Rollstuhl auch Nebenbühnen besuchen, die keine Rollstuhltribüne haben?
Ich habe versucht, mit den Organisatoren der Festivals in Kontakt zu treten, um diese Fragen zu klären. Leider habe ich überwiegend die gleichen, nicht zufriedenstellenden Informationen erhalten, die man auf den Webseiten findet. Daher würde mich sehr interessieren:
Welche Erfahrungen habt ihr auf Musikfestivals gemacht?