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- 26. Juli 2019
Eine Rückenmarksverletzung hat gravierende Folgen für die betroffenen Personen. Bestimmte Bewegungen können nicht mehr kontrolliert werden, man ist eingeschränkt im Alltag, verliert seine Unabhängigkeit und kann an bestimmten gesellschaftlichen Aktivitäten nicht mehr teilnehmen. Dies alles geht einher mit einer Unsicherheit bezüglich der Zukunft und auch die eigene Rolle und die persönlichen Erwartungen an einen selbst verändern sich. Das sind nur einige Beispiele für die enormen Herausforderungen, denen Menschen mit Querschnittlähmung gegenüberstehen.
All diese Herausforderungen lassen vermuten, dass das Wohlbefinden eines querschnittgelähmten Menschen ab Eintreten der Rückenmarksverletzung sehr stark beeinträchtigt wird. Und tatsächlich ist das Wohlbefinden von Menschen mit Rückenmarksverletzung geringer im Vergleich mit gesunden Menschen.
Neueste Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass es Menschen mit Querschnittlähmung mehrheitlich gut geht. Viele von ihnen geben immer wieder an, dass es ihnen auch nach Eintritt der Behinderung gut geht. Anderen geht es kurz nach der Rückenmarksverletzung nicht gut, sie erholen sich aber im Lauf der Zeit. Einige Betroffene leiden Jahre lang nach Eintreten der Behinderung und geben an, dass es ihnen dauerhaft schlecht geht. Diese Gruppe stellt jedoch nur einen sehr kleinen Teil der betroffenen Personen dar.
Wieso gibt es derartige Unterschiede und welche Faktoren verursachen sie? Dies sind Fragen, die für viele von Bedeutung sind: Wenn man die Faktoren identifizieren kann, die das Wohlbefinden eines Menschen beeinflussen, könnte dies ein erster Schritt sein zu einer gezielten Unterstützung und Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Rückenmarksverletzung.
Frühere Forschungsstudien lieferten zahlreiche Ergebnisse, die einen Perspektivenwechsel bewirkten. Zunächst ging man davon aus, dass alle Menschen mit Rückenmarksverletzung auf die gleiche Art und Weise lernen, mit der Querschnittslähmung zu leben. Es wurde angenommen, dass alle Betroffenen dieselben Phasen durchlaufen: Nach der Verletzung folgt der erste Schock, danach die Phase des Leugnens der Verletzung begleitet von einer Phase der Wut. Im Anschluss daran folgt die Phase des „Feilschens und Handelns“ mit sich selbst und letztendlich die Phase, in der man sich mit der neuen Lebenssituation abfindet. Empirische Studien haben diese Annahme allerdings nicht bestätigt. Jeder Mensch reagiert anders und lernt individuell mit der Behinderung zu leben.
Das Wohlbefinden nach einer Rückenmarksverletzung hängt von vielen Faktoren ab. Hier gilt es zu betonen, dass die Läsionshöhe, die Schwere der Verletzung und die körperliche Beeinträchtigung keine konkreten Rückschlüsse auf das Wohlbefinden von querschnittsgelähmten Menschen zulassen. Das Wohlbefinden von Tetraplegikern ist nicht zwangsläufig geringer als das von Paraplegikern.
Mentale Ressourcen und Stärken und die Art und Weise, wie die Betroffenen die Lähmung annehmen und mit ihr umgehen, scheinen wesentlich wichtiger für das persönliche Wohlbefinden zu sein. Wichtige Faktoren im Bereich der persönlichen Ressourcen sind beispielsweise eine hohe Selbstwirksamkeit (Überzeugung bzw. Glaube daran, dass man es schafft sich so zu verhalten, dass das vorgegebene Ziel erreicht werden kann) der Lebensinhalt (inwiefern eine Person Ziele im Leben hat), Selbstachtung oder eine optimistische und hoffnungsvolle Einstellung gegenüber der Zukunft. Studien haben zum Beispiel gezeigt, dass ein hohes Mass an Selbstwirksamkeit mit einem hohen Mass an Wohlbefinden einhergeht.
Auch die Art und Weise, wie die betroffene Person ihre Verletzung selbst beurteilt, kann zum Wohlbefinden beitragen. Während bei manchen Menschen eine negative Einstellung gegenüber der eigenen Behinderung überwiegt, erfahren andere vielleicht Unterstützung und positive Veränderungen nach der Rückenmarksverletzung – beides ist möglich. In einer neueren Studie wurde nachgewiesen, dass Betroffene, die ihre Behinderung als Bedrohung ansehen, ein geringeres Mass an Wohlbefinden aufweisen. Menschen, welche die neue Lebenssituation als Herausforderung ansehen, berichten ein höheres Mass an Wohlbefinden.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist, wie die betroffene Person mit der Rückenmarksverletzung umgeht, d.h. wie sehr sie sich bemüht, die neuen Herausforderungen in Bezug auf die Lähmung zu meistern. Häufig werden drei Arten des Umgangs mit der Querschnittslähmung unterschieden: der problemorientierte Umgang, der emotionsorientierte Umgang und der meidende Umgang. Der problemorientierte Umgang zeichnet sich dadurch aus, dass die Betroffenen selbst planen und aktiv versuchen, eine schwierige Situation zu meistern. Beim emotionsorientierten Umgang steht die Handhabung der eigenen Emotionen im Vordergrund, die durch die Rückenmarksverletzung hervorgerufen werden. Der meidende Umgang ist dadurch gekennzeichnet, dass Betroffene die aktuelle Situation leugnen bzw. versuchen nicht daran zu denken. Der problemorientierte Ansatz, der die aktive Planung beinhaltet, ist die Strategie mit dem höheren Mass an Wohlbefinden. Der meidende Ansatz zeichnet sich durch geringeres Wohlbefinden aus. Jedoch gilt es zu betonen, dass die empirischen Ergebnisse bezüglich des Umgangs mit und Beurteilung der eigenen Behinderung diverse Widersprüche aufweisen.
Die psychischen Ressourcen, die Beurteilung der eigenen Situation und der Umgang mit der Behinderung können durch kognitive Verhaltenstherapie oder andere spezielle Programme beeinflusst und gestärkt werden. Es gibt jedoch grosse Unterschiede bezüglich des Nachweises der Wirksamkeit dieser Programme. Der Einfluss der kognitiven Verhaltenstherapie ist beispielsweise sehr gross. Andere Programme, wie etwa Übungen nach dem Prinzip der Positiven Psychologie, werden derzeit noch untersucht – die Wirksamkeit konnte daher bisher noch nicht bestätigt werden.
Referenzen:
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- Eisenhut, J.: Funktionales Verhaltensmuster „Bewältigungsverhalten und Stresstoleranz“ – Verarbeitungsprozess. In: Haas, U. (Hrsg.) (2012): Pflege von Menschen mit Querschnittlähmung – Probleme, Bedürfnisse, Ressourcen und Interventionen. Bern: Verlag Hans Huber, 339-66.
- Peter, C., Müller, R., Cieza, A., Geyh, S. (2012): Psychological resources in spinal cord injury: a systematic literature review. Spinal Cord 50(3), 188-201.
- Post, M.W.M., van Leeuwen, C.M.C. (2012): Psychosocial issues in spinal cord injury: a review. Spinal Cord 50(5), 382-9.