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- 12. Januar 2015
- Per_max_old
Was vor einigen Jahren noch fragende Blicke erntete, beschäftigt nun die Politik und prägt engagiert geführte Debatten in der Öffentlichkeit. Es geht um schöne Schlagwörter wie Integration, die nun Inklusion heissen und auch sein soll, es geht um Schule, Beruf und Barrieren auf den Bahnhöfen, bis hin zu Bibliotheken und Arztpraxen und nicht zuletzt um die Barrieren in unseren Köpfen. Was war passiert?
Ausgangspunkt: die UN-Behindertenrechtskonvention
Die Vereinten Nationen (UN) haben mit dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (kurz Behindertenrechtskonvention, BRK) im Jahre 2006 einen rechtlichen Rahmen geschaffen, wie er einmalig in der Geschichte ist. Nun besteht immer dort, wo diese Konvention von Staaten ratifiziert wurde, für Menschen mit einer Behinderung ein individuell einklagbares Recht auf Gleichbehandlung. Was zunächst in den Augen vieler, vor allen denen von Politikern, wie ein Akt des blossen Unterzeichnens aussah, entpuppte sich schnell als eine weitreichende Umwälzung bestehender Ordnungen. Man redete sich oft ein, dass man die Rechte von Menschen mit Behinderung eh vollumfänglich im Rahmen bestehender Gesetze wahren würde, und hoffte auf die Strahlkraft dieser Worte. In der Realität aber stehen nun Debatten an, die sich vom Rand der politischen Wahrnehmung auf einen Schlag in die Mitte der Diskussion um die Umsetzung des politischen Gestaltungsauftrages katapultiert haben.
Die UN und ihr offizielles Organ für Gesundheit, die Weltgesundheitsorganisation (WHO), erkannten früh den Bedarf an Information und handhabbaren Werkzeugen, mit denen Staaten sich um die Umsetzung der von der Konvention vorgegebenen Paragraphen kümmern könnten. Wie viele Menschen haben eine Behinderung, wie leben diese Menschen, wie nehmen sie am gesellschaftlichen Leben teil? Wie sehen machbare Lösungen aus? So gab die Versammlung der WHO, in der Staats- und Regierungsvertreter ihren Ländern eine Stimme verleihen, ihren WHO-Organen den Auftrag, einen Bericht über Behinderung zu verfassen. Im World Report on Disability wurden 2011 Informationen aus der gesamten Welt zu den verschiedenen Arten von Behinderungen und deren Kontextualisierung in Zusammenwirken von Mensch und Umwelt zusammengetragen. Regierungen, Interessensgruppen und Betroffene selbst hatten nun eine Sammlung von Fakten und konkret erarbeiteten Handlungsempfehlungen, wie man die in der Konvention formulierten Rechte in der Beschaffenheit und Ausgestaltung unserer gesellschaftlichen Systeme einbetten kann.
Was allgemein und, wo vorhanden, anhand von Beispielen aus aller Welt so gut darzustellen gelang, war im konkreten Einzelfall einer Behinderung nur bedingt möglich. Dies hatte verschiedene Ursachen, häufig der Mangel an vorhandenen und aussagekräftigen Daten: Sucht man nach nationalen Inzidenz- und Prävalenzdaten zu Querschnittlähmung (QSL) findet man oft nur Erhebungen, die QSL als physische Behinderung und im besten Fall vielleicht als eine schwere Form von Gehbehinderung klassifizieren, womit freilich auch Multiple Sklerose oder Amputationen gemeint sein können. Diese Aussagetiefe findet sich dann aber wiederum auch nur in medizinischen Daten: Wenn es um Schule, Beruf, Wohnen und Transportwege und -mittel geht, stehen viel gröbere Angaben zur Verfügung, und das auch nur in wenigen Einzelfällen.
IPSCI, der erste WHO-Bericht zu Querschnittlähmung
Aufgrund dieses offensichtlichen Mangels an Information und der weiterhin verbreiteten allgemeinen Unwissenheit von Politik und Entscheidungsträgern gegenüber der Tragweite der UN-Konvention entstand die Idee, einen einzelnen WHO-Bericht zu nur einer Behinderung zu erarbeiten. In diesem Bericht liessen sich dann alle vielschichtigen und ineinander verwobenen Themen und deren Bedeutungen genauestens beschreiben. Schliesslich entstand mit dem Bericht zu Querschnittlähmung ein einzelner Umsetzungsfall für die Behindertenrechtskonvention.
Über Jahre harter Arbeit in Zusammenarbeit mit vielen Beitragenden aus der International Spinal Cord Society (ISCoS), aus Partnerorganisationen von Betroffenen und Gesundheitsfachleuten sowie aus Entwicklungsorganisationen entstand schliesslich dieser Bericht. Am 3. Dezember 2013, dem Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung, wurde im Hauptquartier der WHO in Genf International Perspectives on Spinal Cord Injury (IPSCI) vorgestellt, der erste WHO-Bericht zu Querschnittlähmung. Er ist seit Frühherbst diesen Jahres auch in vielen anderen Sprachen verfügbar, u.a. auf Deutsch und Französisch.
Der Bericht fasst die wissenschaftlichen Fakten und die neuesten Erkenntnisse rund um das Thema Querschnittlähmung zusammen: Einblicke in die Bereiche Epidemiologie, Gesundheitsversorgung, medizinische Interventionen und relevante politische Rahmenbedingungen. Erfahrene Epidemiologen der Schweizer Paraplegiker-Forschung waren die Hauptautoren des Datenkapitels und haben mit ihrer systematischen Aufarbeitung der weltweiten Evidenz einen wichtigen Beitrag geleistet. Ausserdem flossen Erfahrungen von Betroffenen aus allen Altersgruppen und aus aller Welt ein. Jedes Kapitel beginnt beispielsweise mit Aussagen von Betroffenen zum jeweils behandelten Thema. Basierend auf all diesen Erkenntnissen spricht der Bericht konkrete Handlungsempfehlungen aus, die im Einklang stehen mit den Zielen Inklusion und Partizipation, wie sie in der UN-Behindertenrechtskonvention festgelegt sind.
Der Bericht benennt entscheidende Massnahmen zur Verbesserung der Überlebenschance, der allgemeinen Gesundheit, der Lebensqualität sowie der Partizipation von Menschen mit Querschnittslähmungen. Dies sind unter anderem eine schnelle und angemessene Erst- und Akutversorgung sowie weitere Rehabilitation unter Mitwirkung von multidisziplinären Teams. Ausserdem sind Massnahmen zur Gewährleistung und der Zugang zu einer allgemeinen medizinischen Grundversorgung, zu Gesundheitsbildung, zu Hilfsmitteln sowie zu medizinischen Produkten wichtig, um das Risiko von sekundären Erkrankungen zu reduzieren und die allgemeine Lebensqualität zu steigern. Ebenfalls von grosser Bedeutung sind die Verfügbarkeit und fortlaufende Ausbildung von qualifiziertem Gesundheitspersonal und Dienstleistern im Gesundheitssektor.
Die Sicherung des Rechts auf Bildung und wirtschaftliche Partizipation sind ebenso relevant wie Gesetzgebungen, politische Rahmensetzungen und Programme, welche die allgemeine Zugänglichkeit zu Wohnraum, Schulen, Arbeitsstätten, Krankenhäusern und öffentlichen Verkehrsmitteln verbessern. Auch spezifische Bildung, berufliche Rehabilitation und Wege, um die Diskriminierung im Bildungs- und Berufssektor zu bekämpfen, werden als wichtig aufgeführt.
Botschafter sind die Betroffenen
Wichtige Multiplikatoren dieser Botschaften sind die Betroffenen selbst, ihre Organisationen wie ESCIF oder die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung. Von grosser Bedeutung sind auch Diskussionen in wissenschaftlichen Kreisen oder modernen Medien wie der weltweiten interaktiven Webplattform paraforum. Es geht darum, politische Entscheidungsträger mit Hilfe dieses umfassenden Berichts gezielt zu informieren und sie davon zu überzeugen, dass Reformen notwendig sind und die Empfehlungen umgesetzt werden müssen.
Die Herleitung der Empfehlungen des Berichts aus den Artikeln der Behindertenrechtskonvention ermöglicht es nämlich, dass Staaten an ihre Pflichten in Bezug auf die Rechte von Menschen mit einer Behinderung im Allgemeinen sowie von Menschen mit einer Rückenmarksverletzung im Speziellen erinnert werden – mit Nachdruck, konkreten Themen und Handlungsempfehlungen.
Hier die Kurzfassung des Berichts auf Deutsch: WHO_NMH_VIP_13.03_ger.pdf
Per Maximilian von Groote, Leitender Redakteur des Berichts