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Gesellschaft

Schreckbild «Querschnitt»

Querschnittlähmung ist ein seltenes Krankheitsbild. Es löst aber mehr Betroffenheit aus als Krebs.

Querschnittlähmung ist ein seltenes Krankheitsbild. Es löst aber mehr Betroffenheit aus als Krebs.

Telebasel heisst der regionale Fernsehsender der Nordwestschweiz. Dort beantwortete ich vor einigen Wochen zum zweiten Mal Fragen zum Thema «Querschnittlähmung und Alter». Seht es euch an:

https://telebasel.ch/telebasel-diagnose/?aid=4063&pid=114169

Nach dem Gespräch bedankte ich mich bei der Moderatorin und bemerkte, es sei doch erstaunlich, auf wie viel mediales Interesse wir «QS’ler» stossen. Es sei uns durchaus recht, die Grössenordnungen dürfen wir dennoch nicht verkennen: Wir sind schweizweit etwa 6000. Der Anteil der über 60-Jährigen, der «Alten» also, steigt und liegt bei geschätzten 1500 bis 2000 Personen. Bezogen auf die rund 8.5 Millionen Menschen, die in der Schweiz wohnen, bilden wir eine Gruppe von 0,7 Promille, die Älteren von uns eine von 0,2 Promille. Über so kleine Gruppen berichten die Medien normalerweise überhaupt nicht, gab ich zu bedenken.

Projektile aus Handfeuerwaffen durchdringen oft das Rückenmark, sei es in Kriegen oder bei Mordversuchen.

Die Fernsehjournalistin entgegnete mir aber, unsere Erkenntnisse seien für alle Zuschauer informativ. Sie liessen sich übertragen. Dabei hatte ich im Interview eigentlich das Gegenteil gesagt: Bei uns Paras und Tetras sei es vermutlich wie bei allen Menschen. Ihre Erfahrungen gelten auch für uns: Bestehende Komplikationen und Schwächen nehmen zu und tragen dazu bei, dass das Leben komplizierter wird.

Das Interesse und die Anteilnahme, die westliche Gesellschaften gegenüber uns QS’lern zeigen, muss andere Gründe haben. Ich erkläre es mir folgendermassen: Wir leben und entfalten uns heute so, dass wir traumatische Rückenmarksverletzungen im Grunde fahrlässig herbeiführen. In Kampfhandlungen verwickelte Armeen sind besonders exemplarisch. Projektile treffen häufig das Rückenmark. Die Betroffenen werden dann im wörtlichen Sinne zu «Gefallenen».

Schutzmassnahmen in der Arbeitswelt: Seile sichern diese Dachdecker im Falle eines Sturzes.

Gefallen ist auch, wer auf den Rücken stürzt, zum Beispiel von einem Kirschbaum, einem Dach oder einer Felswand. Menschen stürzen bei der Arbeit, bei sportlichen Freizeitaktivitäten oder im Verkehr. Sie fühlen sich eben gedrängt, gute Leistungen zu erbringen und schnell voranzukommen.

«Wissen Sie, das hätte auch mir widerfahren können.» Diese gutgemeinte Bemerkung, die wir alle kennen, widerspiegelt die Einsicht, dass das Leben auch in der modernen, scheinbar sicheren Welt gefährlich ist. Wer einer von uns geschaffenen Gefahr zum Opfer fällt, verdient Hilfe. Diese solidarische Haltung ergänzen unsere Gesellschaften mit Massnahmen, die Gefahrenquellen zu vermindern. Selbst die Armeen bemühen sich heute, möglichst wenige ihrer Angehörigen direktem Schusshagel auszusetzen.

Das Krankheitsbild «Querschnittlähmung» löst Betroffenheit aus. Unsere Mitmenschen nehmen es als Bedrohung wahr. Dass es statistisch kaum bedeutsam ist, beachten sie nicht. Das trägt dazu bei, dass die Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) 1.8 Millionen Gönner hat und 2017 Beiträge und Spenden von 83.8 Millionen verbuchen konnte. Die noch populärere Rega hat 3.5 Millionen Gönner und nahm 2017 101 Millionen Franken an Beiträgen und Spenden ein. Die Rega bewahrt uns vor dem Horror, irgendwo auf dieser Welt verletzt oder schwer erkrankt ohne kompetente Hilfe verbleiben oder gar verenden zu müssen.

Krebsartige Auswüchse selbst an einem Baum. Geschätzte 320'000 krebskranke Menschen gibt es in der Schweiz, Querschnittgelähmte 6'000.

Mit 23 Millionen an erhaltenen Zuwendungen backte die Krebsliga 2017 deutlich kleinere Brötchen. Dabei ist Krebs die häufigste oder, je nach Land, zweithäufigste Todesursache. Gemäss Krebsliga erliegen ihm in der Schweiz jährlich rund 16'500 Personen. Mehr als doppelt so viele, nämlich rund 40'000, erkranken jedes Jahr neu an Krebs, und es leben geschätzte 320'000 Krebskranke in der Schweiz.

Es soll uns recht sein, dass wir QS’ler so viel Aufmerksamkeit geniessen. Trotzdem würde mich interessieren: Wie erklärt ihr euch, dass wir so grosse Betroffenheit auslösen?

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