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Corona und unsere Rechte

Vorschriften gegen Corona können uns Menschen mit Behinderung härter treffen als andere. Krasse Missstände sollten wir melden.

Vorschriften gegen Corona können uns Menschen mit Behinderung härter treffen als andere. Krasse Missstände sollten wir melden.

Bereits gestern haben wir ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk erhalten: Die bisherigen, diskriminierenden Triage-Richtlinien wurden geändert. Intensivpflegestationen müssen nun Menschen mit Behinderung in jedem Fall aufnehmen, wenn die kurzfristige Prognose gut ist. Mehr dazu lest ihr weiter unten.

Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: Das Coronavirus Covid-19 schränkt unsere Freiheiten ein – nicht der Bundesrat, nicht die Kantonsregierung und auch nicht die Spitalverwaltung oder Heimleitung.

Die Behörden und die Verantwortlichen von Institutionen müssen dafür sorgen, dass sich das Virus nicht zu stark ausbreitet. Mit den verfügten Massnahmen schützen sie uns und die Allgemeinheit.

Dafür müssen alle, Behinderte und Nichtbehinderte, etwas von ihren persönlichen Freiheiten preisgeben. Hinzu kommt: Alle üben – Erfahrungen im Umgang mit Pandemien haben die heute hier lebenden Menschen nicht.

Beispiel 1: Maskenpflicht

Im Alltag zahlen Menschen mit Behinderungen unter Umständen einen höheren Preis. Wer aus medizinischen Gründen keine Maske tragen kann oder darf, riskiert, dass ihn seine lieben Mitmenschen anöden, unter Umständen den Zutritt zu einem öffentlichen Lokal verwehren, auch wenn er oder sie ein Arztzeugnis vorweist. Dieses Verhalten verstösst gegen das Behindertengleichstellungsgesetz, das seit 2004 in Kraft ist. Gegen Widerstand durchsetzen lässt es sich in solchen Situationen nicht.

zeichen maskenpflicht

Wer aus medizinischen Gründen die Maskenpflicht nicht einhalten kann, wird unter Umständen ausgegrenzt.

Beispiel 2: Besuchsregelungen

Besonders unangenehm sind die Besuchs- und Ausgehregelungen, die in manchen Heimen wegen Covid-19 gegolten haben bzw. wieder gelten. Dabei hat es sich im Zuge der Pandemie eingespielt, «Behinderte» und «Alte» denselben freiheitsraubenden Massnahmen zu unterstellen. So war’s und ist’s nicht gemeint mit der Idee der Gleichstellung. Im Gegenteil: Solchen Vorgängen sollte die Gleichstellung entgegenwirken.

Bis zu einem gewissen Grad müssen wir Menschen mit Behinderung es leider hinnehmen: die Massnahmen zur Eindämmung von Covid-19 vertragen sich nur bedingt mit dem Gleichstellungsgedanken, dem Konzept der Teilhabe und dem Recht auf Selbstbestimmung.

Wenn’s uns aber zu bunt wird, lohnt es sich, Missstände zu melden. Zum Beispiel dem Dachverband der Behindertenorganisationen Schweiz: Inclusion Handicap. Der Verband bietet Rechtsberatung an und vertritt unsere Interessen gegenüber den Behörden. Im Dialog mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) brachte er Erleichterungen in der Covid-19-Verordnung durch.

frau schiebt ältere dame im rollstuhl

«Alte und Behinderte behandeln wir gleich.» So war und ist Gleichstellung nicht gemeint.

Beispiel 3: Zugang zu Intensivpflege

Besonders heikel wird es, wenn auf den Intensivpflegestationen (IPS) die Betten knapp zu werden drohen oder keine mehr verfügbar sind. Die Ärzte sind dann gezwungen, zu «triagieren», gewisse Patienten abzuweisen.

Die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin und die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) haben dazu Richtlinien herausgebracht. Sie bestimmen die Kriterien, nach denen vorzugehen ist. Sie sollen verhindern, dass IPS-Ärzte willkürlich und ungerecht handeln.

Inclusion Handicap, FRAGILE Suisse sowie AGILE.CH haben sich hier eingebracht und dazu beigetragen, dass in diesen Triage-Richtlinien die folgenden, vermeintlich erlösenden Sätze stehen:

«Das Alter, eine Behinderung oder Demenz per se sind keine Kriterien, die zur Anwendung gelangen dürfen. Dies wäre ein Verstoss gegen das verfassungsrechtlich verankerte Diskriminierungsverbot, weil dadurch älteren Menschen, Menschen mit Behinderung und an Demenz erkrankten Menschen weniger Wert beigemessen würde als anderen.»

Ein anderer Grundsatz weicht die Aussagen allerdings auf: Bei völliger Überlastung «ist die kurzfristige Prognose entscheidend». Dabei sollte bis vor kurzem die Clinical Frailty Scale helfen, Entscheide bestmöglich zu objektivieren.

klinische frailty skala

Die Klinische Frailty Skala (Quelle: https://www.divi.de/)

Weitere Erlösung: Fragilitätsskala kommt nicht zum Tragen

Diese «Fragilitätsskala» klassiert den Zustand von Patienten vor Eintritt in die IPS in neun Stufen: von «körperlich fit» (1) bis «terminal krank» (9).

Ab Stufe 5 floss als zusätzliches Kriterium ein, ob betreffende Patienten auf die Hilfe von Drittpersonen angewiesen sind. Falls ja, war das in der Triage ein Malus, auch wenn die kurzfristige Überlebensprognose gar nicht schlecht ist.

Bei der Kombinierung dieser Kriterien schnitten Menschen mit Behinderung generell schlecht ab, unter uns «QS’lern» namentlich die «hohen» Tetraplegiker. Sie sind im Kopf topfit, arbeiten womöglich oder sind ehrenamtlich tätig, können aber den Alltag vom Kochen bis zur Pflege nur mit Hilfe bestreiten.

behandlung auf der intensivpflegestation

Die Intensivpflegestationen sind überfüllt: Es gibt Regelungen, wer dann noch Aufnahme findet.

Die wiederholten Interventionen von Inclusion Handicap und AGILE.CH haben nun bewirkt, dass die SAMW bei Menschen mit Behinderung auf die Anwendung der Fragilitätsskala verzichtet. Dies geht aus einer Medienmitteilung von gestern hervor. Sie kommt für uns wie ein Weihnachtsgeschenk.

Neu steht in den Triage-Richtlinien:

«Die Clinical Frailty Scale ist für die Einschätzung der Gebrechlichkeit von Menschen mit Behinderungen nicht validiert und somit hier irrelevant. Der Gesundheitszustand ist bei allen Personen gleichermassen festzustellen, unabhängig von bestehenden Behinderungen. Jedes andere Vorgehen wäre eine diskriminierende Handlung und ist abzulehnen.»

Patientenverfügung kann uns zusätzlich schützen

Das Weihnachtsgeschenk der SAMW darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es ruppig zugeht, wenn die Intensivpflegestationen überfüllt sind. Die Zeit für sorgfältiges Federlesen und längliches Abwägen fehlt dann.

Vor allem für Alleinstehende kann es mithin unangenehm werden. Sie brauchen Verbündete. Die Patientenverfügung kann ein solcher Verbündeter sein, wie wir hier in der Community kürzlich dargelegt haben. Sie verweist unter anderem auf Kontaktpersonen, so zum Beispiel den zuständigen Arzt im SPZ oder sonstwo.

Ich selbst rate zudem, die Patientenverfügung aktuell zu halten und Kopien von Arztberichten und Untersuchungen aufzubewahren. Den entsprechenden Ordner habe ich jederzeit griffbereit und zudem auf einem Stick.

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