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Die erste Behindertensession im Schweizer Parlament

Am 24. März findet in Bern die allererste Behindertensession statt. Vier Teilnehmende erzählen, was sie dort bewirken wollen

Am 24. März findet in Bern die allererste Behindertensession statt. Vier Teilnehmende erzählen, was sie dort bewirken wollen

Es ist das Privileg des Nationalratspräsidenten, Gäste zu einem speziellen Anlass in den Nationalratssaal nach Bern einzuladen. Mitte-Politiker Martin Candinas nutzt diese Gelegenheit, um die allererste Behindertensession der Schweiz einzuberufen. Er selber ist langjähriges Mitglied der Kantonalkommission Graubünden von Pro Infirmis und hat die Idee initiiert.

Das Ansinnen kommt zu einem guten Zeitpunkt. Denn: «Die Überprüfung der UNO-Behindertenrechtskonvention im Frühjahr 2022 wirft ein schlechtes Licht auf den Stand der Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz», sagt Philipp Schüepp. Er ist Verantwortlicher Public Affairs bei Pro Infirmis und erklärt, dass an der Session eine Resolution zur Teilhabe am politischen Leben diskutiert wird: «Diese wurde durch die Behindertenkommission vorbereitet, kann aber am 24. März durch Anträge und per Abstimmung noch gänzlich verändert werden.»

Einblick in den Nationalratssaal, an der Wand das Gemälde der Rütli-Wiese von Charles Giron, im Vordergrund die Arena mit den Stühlen und Pulten.

Zum ersten Mal gehört der Nationalratssaal am 24. März den Menschen, die mit einer Behinderung leben.

Geleitet wird die Zusammenkunft im Bundeshaus von Mitte-Nationalrat Christian Lohr. Der Thurgauer ist ein sogenanntes Contergan-Opfer und kam ohne Arme und mit missgebildeten Beinen auf die Welt.

Warum dürfen genau 44 Personen mitmachen? Gemäss Statistik leben 22 Prozent der Schweizer Bevölkerung mit einer Beeinträchtigung. Bei 200 Nationalratsmandaten entspricht das 44 Sitzen. Die Teilnehmenden wurden im Vorfeld von der Öffentlichkeit gewählt. In diesem Beitrag erzählen vier von ihnen, wo sie ihren Schwerpunkt an dieser Session setzen möchten.

Menschen mit Behinderung eine Stimme geben

Anne Hägler, Jahrgang 1968, lebt mithilfe von Assistentinnen und der Spitex selbstständig in Winterthur ZH. Wegen ihrer Multiple-Sklerose-Erkrankung (MS) leidet sie an einer Tetraplegie. Sie hat einst die Ausbildung als Lebensmittelingenieurin ETH gemacht und beschäftigt sich heute besonders mit ernährungsbezogenen Fragen.

Zu ihren Hobbys gehört alles rund um Kultur, Museumsbesuche, klassische Musik, Lesen und Weiterbildung. «Früher war meine Freizeit vor allem mit Sport wie Bergsteigen und Skifahren sowie Reisen um die ganze Welt ausgefüllt.» Das habe sich der Gesundheit wegen geändert.

Ein Porträtbild von Anne Hägler. Sie hat kurze, dunkle Haare, trägt eine Brille mit schwarzem Rand, eine rote Bluse sowie Schal.

Anne Hägler ist überzeugt: Wenn man sich zusammentut, verbessert sich die Lebensqualität von allen Beteiligten.

Bisher war Anne Hägler nicht politisch aktiv, setzt sich nun aber für ihre Anliegen ein. Dabei geht es ihr um Vernetzung, begleitetes Wohnen für Menschen mit körperlichen und sinnlichen Beeinträchtigungen – und das gesellschaftliche Leben ganz allgemein: «Ich wünsche mir für Leute mit Handicap ein Angebot in gleicher Qualität und Menge wie für Seniorinnen und Senioren.» Schliesslich möchten alle gelassen, frei und selbstbestimmt leben können. Dafür will sie ihre Stimme erheben – und von der Politik gehört werden.

«Gemeinsam sind wir stark – deshalb wünsche ich mir eine Vernetzung über die spezifische Krankheit und Behinderung hinaus.»

Anne Hägler

Inklusion statt Ausgrenzung

Peter «Pesche» Buri, Jahrgang 1988, wohnt in Ostermundigen BE und ist selbstständiger Kaufmann EFZ. Er hat Muskeldystrophie Duchenne Typ 2, eine progressive neuromuskuläre Erkrankung. Nebst Politik interessiert sich der Musikliebhaber auch für Gaming und Filme, Eishockey und American Football, Reisen und gutes Essen. «Ich bin eine aufgestellte, unternehmungslustige, vielseitig interessierte und aufrichtige Person.»

Ein Porträtbild von Peter Buri. Er trägt eine rote Baseballmütze, sein Hemd ist blau kariert. Über einen Schlauch in der Nase erhält er Sauerstoff.

Peter Buri ist wichtig, dass Menschen mit Behinderung nicht nur auf ihr Handicap reduziert werden.

Wofür er einsteht, ist klar: Eine inklusive Arbeitswelt, in der alle gleichberechtigt sind. Eine zugängliche Politik und Barrierefreiheit. Ein Sozialstaat, der niemanden zurücklässt. Und absolute Wahlfreiheit bei der Wohnsituation – «egal, ob in einer eigenen Wohnung, mit oder ohne persönliche Assistenz, einer Wohngemeinschaft, mithilfe der Spitex oder in einer Institution.» Pesche Buri ist überzeugt, dass Menschen mit einer Behinderung in der Gesellschaft sichtbar sein müssen.

«Wir haben an der Session und darüber hinaus eine enorme Verantwortung – denn wir sind die Speerspitze unserer Bewegung.»

Pesche Buri

Mitspracherecht in der Politik

Vanessa Grand, Jahrgang 1978, wohnt mit ihren Eltern in einem Einfamilienhaus in Leuk VS und arbeitet als Journalistin und Sängerin. Weiter engagiert sie sich für Menschen mit Krankheit und Behinderung in diversen Organisationen. Die Walliserin lebt mit der Glasknochenkrankheit, liebt Basteln und Handarbeiten, Lesen und Reisen.

Sie hat sachpolitisch bereits einiges bewirken können, zeigt Missstände auf, übt aber kein politisches Amt aus und gehört keiner Partei an. «Ich bin der Meinung, Behinderung geht alle etwas an – und ich erkenne aktuell keine Partei, die sich in diesen Belangen deutlich von den anderen abhebt.»

Ein Porträtbild von Vanessa Grand. Sie hat rotbraunes, halblanges Haar und trägt eine schwarze Jacke über einem brombeerfarbenen Shirt.

Vanessa Grand fordert Teilhabe und Selbstbestimmung – für alle.

«Wo fangen wir bloss an?», fragt sie. Geht es um Anliegen von Menschen mit einer Behinderung, hängen viele Forderungen unmittelbar zusammen. Doch das Gesundheitswesen spiele sicherlich eine der Hauptrollen, wie auch die Mobilität: «Wenn der öffentliche Verkehr nicht hindernisfrei ist, dann schränkt mich das als Betroffener auch in den Themen Schule, Arbeit, Freizeit und Arztbesuche massiv ein.»

Vanessa Grand plädiert deshalb für ein Mitspracherecht in der Politik. «Können wir auf Gesetze nicht Einfluss nehmen, so werden Entscheide immer über unsere Köpfe hinweg gefällt. Das darf nicht sein!»

«Wer nicht sichtbar ist, der existiert nicht. Doch 22 Prozent der Schweizer Bevölkerung lebt mit einer Behinderung!»

Vanessa Grand

Weniger Bürokratie, mehr Menschlichkeit

Martin Jaussi, Jahrgang 1966, lebt mit seiner Partnerin in Baar ZG, war einst Schreinermeister und übernahm dann als Selbständigerwerbender einen Betrieb. Bereits in jungen Jahren erhielt er die Diagnose Multiple Sklerose; und wegen gesundheitlicher Probleme verlagerte sich seine Arbeit immer mehr ins Administrative. «Ich bin gerne unter Leuten und suche die Gesellschaft anderer.» Lesen gehört zu seinen Hobbys.

Ein Porträtbild von Martin Jaussi. Er sitzt daheim in seinem Elektrorollstuhl, hat kurze graue Haare und einen Pullover über die Schulter gelegt.

Martin Jaussi setzt sich bereits im Kanton Zug ein; jetzt freut er sich auf die nationale Ebene.

Der gebürtige Berner engagiert sich stark, ist Mitglied der Arbeitsgruppe Menschen mit Behinderung Zug und in der Zentralschweiz Ansprechperson bei InVIEdual, einer Beratungsstelle rund um Assistenz.

Martin Jaussi weiss viel über dieses Thema – aus eigener Erfahrung. So wohnte er selber einige Jahre in einem Pflegezentrum, bis ein neu aufgebautes Betreuungssystem aus seiner Partnerin, fünf Assistentinnen und einem Assistenten, inklusive Nachtwache, ihm das Leben in den eigenen vier Wänden möglich machten.

Dadurch ist er aber auch Arbeitgeber geworden, mit allem, was dazugehört. Und das ist vor allem viel Bürokratie und einige unverständliche politische Stolpersteine: «Ich kenne Betroffene, die hat dieses Vorhaben schlicht überfordert.»

Das soll nicht sein, denn mit der nötigen administrativen Hilfe und einer einfacheren Handhabung lässt sich gut ein eigenständiges Leben einrichten. «Ich möchte mich dafür einsetzen und andere ermutigen, es mir gleichzutun.» Dazu braucht es auch genug rollstuhlgängige Wohnungen, die bezahlbar sind.

«Gerade junge Menschen sollten nicht in einem Wohnheim leben müssen – sie gehören mitten in die Gesellschaft.»

Martin Jaussi

Was muss die Politik für Menschen mit Behinderung besser machen? Wo seht ihr Handlungsbedarf?

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