Silke Pan war Akrobatin, bis sie bei einer Trapeznummer ausrutschte und den Rücken brach. Nun tourt sie wieder durch Europa
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- 07. August 2023
- Christine Zwygart
Ihre Bewegungen sind elegant, die Haltung anmutig, ihr künstlerischer Ausdruck bezaubert. Wenn Silke Pan heute ihre Darbietung zeigt und sich minutenlang im Handstand hält, grenzt das an ein kleines Wunder. Die Paraplegikerin hat nie damit gerechnet, in die Manege oder auf die Bühne zurückzukehren. Seit sie 2007 beim Üben einer Trapezfigur ausrutschte und ihr Partner Didier Dvorak sie nicht mehr auffangen konnte, sitzt die heute 50-jährige Westschweizerin im Rollstuhl.
Den Weg zurück ins Rampenlicht hatte sie darum längst begraben. «Während meiner Rehabilitation in Nottwil musste ich mich mit diesem völlig neuen Körpergefühl anfreunden», erinnert sich Silke Pan. Vom Bauchnabel abwärts spürte sie nichts mehr, versuchte aber dennoch, in der Physiotherapie wieder Trapezfiguren zu formen. «Doch es war unmöglich, das gelähmte Becken zu drehen.» Bodenübungen, Kopfstand, Handstand – nichts davon wollte gelingen.
Somit begrub Silke Pan ihre Träume. Ihr Können, das sie einst in Berlin an der Staatlichen Ballettschule und an der Staatlichen Artistenschule erlernt hatte, ging mit diesem Schicksalsschlag verloren. Eine tiefe Traurigkeit erfasste sie. «Ich dachte mir: aus und vorbei. Und habe dieses Kapitel meines Lebens schweren Herzens abgeschlossen.» Doch wie weiter? Womit sollte sie künftig ihren Lebensunterhalt verdienen? Wie ihren Körper wieder spüren?
«Obwohl ich mich nie an die Vergangenheit geklammert habe, empfinde ich die Rückkehr zur Akrobatik als riesiges Geschenk.»
Silke Pan
Neue Perspektiven in Kunst und Sport
Das Paar musste sich frisch orientieren, eine neue Aufgabe suchen. Didier war bereits zuvor als Ballonkünstler aktiv, Silke holte diese Ausbildung nach. Gemeinsam machte sich das Duo als Canniballoon in der Szene schnell einen Namen – das Kreative hatten sie schliesslich als Artisten in sich. In Aigle VD war ihre Werkstätte, wo fortan Ideen für grosse Ballon-Dekorationen entstanden, die sie dann in Kaufhäusern, Freizeitparks und Festhallen aufstellten.
Mit ihrem gelähmten Körper, dem Schamgefühl ihm gegenüber, hatte Silke Pan hingegen lange zu kämpfen. «Erst der Sport hat mir geholfen, mich wieder gut zu fühlen.» Muskelkater vom Handbike-Fahren statt immer nur diese chronischen Schmerzen, draussen in der Natur und an der frischen Luft sein – so erlebte sie den eigenen Körper wieder als Freude.
Schnell wurde die einstige Akrobatin zu einer exzellenten Sportlerin. An Rennen hat sie alles gegeben, um Plätze gekämpft, manchmal verloren, oft gewonnen, hart trainiert. Der Lohn dafür: 132 Rennen auf internationalem Niveau, 121 Mal auf dem Podest, davon 80 Mal Gold. Sie fuhr Weltbestzeit im Marathon (2013 bis 2015), überquerte 80 Alpenpässe (2016 bis 2019), machte 30 Seeüberquerungen im Para-Triathlon-Modus (2019). Seit der Einbürgerung 2018 startete die gebürtige Deutsche für das Schweizer Nationalteam.
«Dank des Sports konnte ich mein Handicap besser akzeptieren.»
Silke Pan
Corona veränderte das Trainieren
Doch dann kam die Corona-Pandemie. Rennen wurden erst verschoben, dann abgesagt, Trainings fielen aus. «Also habe ich mir daheim ein kleines Fitnessstudio eingerichtet und auf Empfehlung des Trainers neue Übungen für die Schultermuskulatur ausprobiert», erzählt Silke Pan. Ja, und deshalb fragte sie ihren Mann Didier, ob er ihr in den Handstand helfen könnte. Damit das etwas einfacher ging, legte er ihren Körper auf ein altes Snowboard, fixierte Beine und Hüfte mit Bändern und richtete sie kopfüber auf die Hände auf.
Ihr erster Eindruck war von einer gewissen Schwere geprägt. Doch schon nach zehn Minuten «war es, als würde sich mein Körper und die Muskeln an die Positionen von damals erinnern». Automatisch platzierten sich Hände und Schultern richtig, um eine akrobatische Übung zu machen. Beim vierten Versuch stand sie selber im Handstand, auf das Snowboard geschnallt.
«Wir haben beide geweint vor Freude. Denn uns war klar, dass sich so ganz neue Möglichkeiten für uns öffnen.» Silke Pan probierte andere Techniken aus, löste sich vom Brett, band stattdessen die Knie mit einem Seil vor der Brust zusammen. Nach und nach wurde sie dank des Trainings kräftiger – aber mit der Ästhetik war die Akrobatin nicht zufrieden. Also versuchte sie es mit einem Stab, den sie sich aufs Genick legte und die Füsse daran fixierte. Volltreffer! «Das sieht gut aus mit gestreckten Beinen, auch wenn ich immer noch daran arbeite, mehr Eleganz in das Ganze zu bringen.»
Anfragen für Auftritte in der Manege
Auf Social Media postete sie Bilder ihrer Handstand-Übungen. Und dann passierte, was niemand erwartet hätte: Der Zirkus Helvetia klopfte an und wollte sie engagieren – mitten in der Handbike-Saison, die weiterhin erfolgreich lief, auch wenn Silke in Kopf und Herz schon wieder unter dem Chapiteau arbeitete. Sie sagte zu, für die Weihnachtssaison 2021 und den Sommer 2022.
Auch die Zirkusschule Lausanne meldete sich bei der Rollstuhl-Akrobatin. Nach ihrem Unfall hatte Silke Pan all ihre Requisiten verschenkt; und die Direktorin bot nun an, ihr das alte Podest zurückzugeben. «Das war ein so starker Moment, als ich diesen Tisch das erste Mal wieder unter meinen Händen spürte.»
Neben dem Training für ihre Zirkus-Darbietung fuhr Silke Pan 2021 weiter Handbike-Rennen – eine ihrer besten Saisons. Im September gab sie ihren Rücktritt vom Spitzensport bekannt. Nur drei Monate später trat sie zum ersten Mal nach 14 Jahren wieder in der Manege auf. An ihrer Seite wie immer: Didier, diesmal als Assistent. Das Lampenfieber vor dem ersten Auftritt war gigantisch. Und eine Frage beschäftigte die Akrobatin immerzu: «Ich stand kurz davor, einen Traum zu verwirklichen. Aber ich hatte Angst, dass meine Nummer nicht ankommt – ich nur Mitleid ernte.» Die Standing Ovation überzeugte sie vom Gegenteil.
Zurück in der internationalen Zirkusfamilie
Von da an ging es Schlag auf Schlag. Im September 2022 nahm Silke Pan erstmals an einem internationalen Festival teil – dem Salieri Circus Award in Italien. Sie war als Ehrenkünstlerin geladen und wurde gleich mit vier Preisen ausgezeichnet. «Dadurch gehörte ich plötzlich wieder zur internationalen Zirkusfamilie, bekam zahlreiche Anfragen, wurde an Festivals eingeladen …». Man hört ihrer Stimme an, wie bewegend dieser Schritt zurück für sie sein muss. Auch wenn heute vieles anders ist als in ihrer ersten Zirkuskarriere.
Aktuell trainiert Silke Pan in Spanien mit ihren neuen Requisiten. Ab Oktober tritt sie dann bis im Frühling im Gravity Circus in Mailand auf, macht jedoch einen Abstecher in den Weihnachtszirkus Roncalli nach Berlin und beginnt im März 2024 mit einem Engagement im Freizeitpark PortAventura in Spanien.
Wie, Silke Pan, findet man nach all den Hoch und Tiefs zu dieser enormen Stärke zurück? «Ich bin in jeder Phase meines Lebens positiv geblieben», erzählt sie. Und dankbar für alles, was noch machbar war und funktionierte. Schicksalsgeschichten von anderen Menschen haben ihr geholfen, die eigene Last besser zu tragen.
Für sie persönlich wichtig im Umgang mit ihrem Körper: das Training mit dem Exoskelett. Eine Art Gehroboter, den die Eidgenössische Technische Hochschule in Lausanne entwickelt hat. «Ich war sozusagen die Testpilotin, und dadurch hat mein Kopf gelernt, meinen Körper wieder als Ganzes wahrzunehmen.»
Was hat dir geholfen, an deine Stärke zu glauben und sie zurückzugewinnen?