Auch Wolfgang Schäuble ist das Leben nicht immer leichtgefallen, beschreibt er ehrlich in seinem Buch «Erinnerungen».
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- 21. September 2024
- fritz
Sozialforscher der Schweizer Paraplegiker-Forschung (SPF) haben errechnet, dass ein Mann, der im Alter von 50 Jahren eine komplette Paraplegie erleidet, im Durchschnitt noch 23,5 Jahre lebt.
Wolfgang Schäuble als prominentes Beispiel
Nehmen wir als Beispiel Wolfgang Schäuble, einen hoch angesehenen deutschen Spitzenpolitiker. Er war 49 Jahre alt, als ihn am 12. Oktober 1990 «ein unter einer Psychose leidender Täter» von hinten in die obere Brustwirbelsäule schoss. So schreibt es Schäuble in seinem Buch «Erinnerungen. Mein Leben in der Politik», erschienen Ende April 2024.
Der damalige deutsche Innenminister war fortan kompletter Paraplegiker und lebte noch 32 Jahre. Am 26. Dezember 2023 starb er im Alter von 81 Jahren. Er hielt sich nicht an die Statistik der SPF, sondern übertraf sogar das allgemeine Durchschnittsalter der Männer um ein Jahr. Seinen beiden nicht behinderten Brüdern war das nicht vergönnt: Sie starben schon mit 74 bzw. 65 Jahren.
Schäuble beendete sein Leben in Würde
Schäubles Ende April 2024 erschienenes Buch «Erinnerungen» war praktisch fertiggestellt, als er kurz vor Weihnachten 2023 wieder mal ins Krankenhaus musste. Es war absehbar, dass er bald sterben würde.
Trotzdem schaffte er es, Weihnachten zu Hause mit seiner Familie zu feiern. «Da kann ich jetzt keinen Huddel machen», also der Familie Ärger bereiten und das Fest vermiesen. Es gab den traditionellen Rehrücken mit «Spätzle» und dazu badischen Blauburgunder.
Am nächsten Tag «entschlief Papa friedlich» und verliess alle zu Hause in Würde. Das berichtete seine älteste Tochter in ihrer bewegenden Trauerrede in der evangelischen Stadtkirche von Offenburg am 5. Januar 2024. Der Krebs, den die Ärzte bereits 2006 diagnostiziert hatten, tötete ihn, nicht eine Komplikation seiner Querschnittlähmung.
Zwei Leben: eins davor, eins danach
Schäuble schreibt in seinem Buch viel und anekdotenreich über die deutsche Politik, aber auch über sein Leben im Rollstuhl. Er trat immer souverän auf, schien alles im Griff zu haben, ohne überheblich zu wirken – und doch erging es ihm nicht anders als uns allen.
«1990 wurde politisch wie privat zum zentralen Jahr meiner Biografie, die seitdem ein Davor und ein Danach kennt.»
Wolfgang Schäuble
An das «Danach» musste er sich erst gewöhnen, wie wir alle. Zuerst ging es ihm «elend», aber schon bald erlebte er, was viele von uns kennen. Er zitiert den NS-Widerstandskämpfer und Theologe Dietrich Bonhoeffer, wonach «der Mensch Widerstandskraft für die Not nicht auf Vorrat erhält, aber dann, wenn er sie braucht.» Er spielt damit auf den psychologischen «Airbag-Effekt» an.
«Hätte man mir vorher gesagt, was ich durchzustehen habe, hätte ich es mir selbst nie zugetraut, und ich staune mitunter noch immer, wie anpassungsfähig der Mensch ist.»
Ehrlich gesteht er, dass ihm die «öffentliche Anteilnahme guttat» und dass er den Mitarbeitenden in der Reha-Klinik Karlsbad-Langensteinbach «unendlich viel verdankt».
Im folgenden Satz erfahren wir, wem er es zu verdanken hat, dass er sich trotz seiner Querschnittlähmung im anspruchsvollen politischen Umfeld behaupten konnte:
«Seit dieser Zeit gibt mir als Krankenschwester und ständige Begleitung Elke Richter die Sicherheit, die es braucht, um das Leben im Rollstuhl zu bewältigen.»
Gleichermassen trug ihn seine Familie, schreibt er:
«Der Zusammenhalt in der Familie – es ist das Verdienst meiner Frau – ist unheimlich stark.»
Privilegien gibt es nicht umsonst
Die meisten von uns denken sicher: So eine Elke Richter hätte ich auch gerne! Schäuble gibt zu, dass er in mancher Hinsicht privilegiert war. Er war aber stärker gefordert als die meisten von uns. Ständig stand er in der Öffentlichkeit, musste sich beschimpfen lassen, stundenlang debattieren, manchmal hart verhandeln und streiten und zudem viel reisen.
So strapaziös mögen es die meisten von uns nicht. Da ist es bequemer, sich anzuschmiegen und lieb Kind zu machen. Genau das konnte Schäuble nicht. Dazu war er zu verantwortungsbewusst und wohl zu stolz.
Trotzdem war auch er verunsichert, wie er sich aus dem Rollstuhl heraus verhalten sollte. Er fragte sich, wie er sich trotzdem politisch so durchsetzen konnte, wie er es für richtig hielt. Manche warfen ihm vor, er spiele mit den Gefühlen der Anteilnahme, andere, dass er seit dem Attentat mit anderen genauso hart ins Gericht gehe wie mit sich selbst. Das habe ihn verletzt, gibt er zu.
«Die unterstellte Härte mir selbst gegenüber lässt im Übrigen leicht übersehen, dass ich schwächer bin, als es aussieht. Ich würde überhaupt sagen, dass ich durch die Behinderung eher weicher geworden bin, feinfühliger, auch nachdenklicher.»
Querschnittgelähmt = verletzlich
Die Biologie ist unerbittlich: Natürlich litt Schäuble unter den gleichen Komplikationen, die auch unser Leben als Querschnittgelähmte prägen. Beispielhaft erzählt er, dass er sich oft hinlegen musste, um seine Haut zu schonen, und dass ihm Spasmen in die Beine schossen. Es fiel ihm auch schwer, bei Veranstaltungen die Arme zum Applaus zu heben; er fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren.
Er war mehrmals im Spital, einmal, «um ein Implantat zu ersetzen» – was für eines, können wir alle erahnen. Dabei lief nicht alles rund, er hätte im Krankenhaus bleiben müssen, aber der amerikanische Finanzminister hatte sich angemeldet. Übermüdet und mit einer schlecht verheilten Wunde liess er sich überstürzt nach Berlin fliegen. In seinem Büro angekommen, tat er so, als sei alles in Ordnung. Das gelang ihm teilweise: «You look pretty well» («Sie sehen ganz gut aus»), rief ihm sein amerikanischer Amtskollege zu und liess mit seiner Wortwahl durchblicken, dass Schäuble etwas angeschlagen wirkte.
Die Querschnittlähmung hatte auch Auswirkungen auf die Partnerschaft. Ingeborg und Wolfgang Schäuble waren 21 Jahre verheiratet, als das Attentat geschah:
«Auch für meine Frau war nun plötzlich vieles nicht mehr möglich, jedenfalls nicht mit mir als Partner, weshalb ich gelegentlich sage, dass zur Hälfte auch sie im Rollstuhl sitzt.»
Nicht nur das: Zur anderen Hälfte war sie mit einem Spitzenpolitiker verheiratet. Schon das allein ist nicht immer einfach.
Ihr und uns bleiben jetzt Schäubles «Erinnerungen».