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Porträts & Geschichten

Tschechisches Frühstück

Hin und wieder müssen wir alle ausbrechen und den Moment geniessen.

Hin und wieder müssen wir alle ausbrechen und den Moment geniessen.

Im November 1977 hatten Pierrot und ich bereits vier Monate aktive Erstrehabilitation hinter uns. Zuvor hatten wir eine passive Zeit auszuhalten: 12 Wochen Liegezeit, damit unsere verletzten Halswirbel wieder zusammenwachsen konnten. Den Wirbeln tat diese Zeit gut, dem übrigen Körper weniger. Es dauerte, bis wir wieder bei Kräften waren. Als brave und fleissige Reha-Schüler waren wir aber im Spätherbst wieder einigermassen getrimmt. 

Am 12. November hatte Pierrot Geburtstag. Da bedingte er sich aus, dass er den Tag mit einem, wie er es nannte, tschechischen Frühstück beginnen dürfe. Danach faulenze er nach Belieben. Diese Geburtstagstradition pflege er schon seit vielen Jahren, erklärte er, der nunmehr 27-jährige mit unfallbedingter kompletter Tetraplegie.

Nichts tun müssen, nichts denken müssen, einfach sein. Das tut gut.

Bier hatten wir in unserem Zweierzimmer ohnehin. Eine sicher zehn Jahre ältere Bekannte von Pierrot spendete es. Auf seinen Wunsch hin hatte sie schon während der Liegezeit veranlasst, dass wir davon kistenweise geliefert bekamen. Anfänglich war es «Kinderbier» ohne Geist, mit wiedergewonnenen Kräften geisthaltiges. Die Kisten standen etwas verborgen in der Ecke hinter den Wandschränken.

Justine, mit der er angebandelt hatte, kümmerte sich darum, dass im Hinblick auf Pierrots Wiegenfest auch einige Flaschen gekühlt waren. In der Stationsküche hatte es einen Kühlschrank. Dort bereitete sie ihm zu den salzigen Brötchen Rührei und ein angeblich originales tschechisches Würstchen zu. Eigens dafür war sie früh aufgestanden. Sie war eigentlich Künstlerin und hatte ein Teilzeitpensum als Aktivierungstherapeutin. Mit Pierrot verband sie eine gewisse Seelenverwandtschaft. Sie fühlte sich einsam, während er es in gewisser Weise tatsächlich war. Er bekam vergleichsweise selten Besuch. So erfüllte sie ihm seinen schrulligen Wunsch, obschon es ihr beinahe den Magen kehrte. Sie trank selbst kein Bier, erst recht nicht am frühen Morgen.

Auch beim geselligen Zusammensein können wir den Moment geniessen.

Pierrot verbrachte den Vormittag in redseliger Stimmung. Nach dem Mittagessen schlief er lange, bevor er gegen Abend Champagner-Korken knallen liess. Es wurde feierlich und heiter zugleich. Pierrot lachte und erzählte schräge Geschichten aus seiner Zeit an der Hotelfachschule. Seit dem frühen Morgen genoss er das wohlige Hier und Jetzt, der Geist des Alkohols liess Zukunftsängste und Grübeleien verfliegen.

Das wohlige Zusammensein mit der lieben Justine durchflutete uns drei im späteren Abend kuschelig warm. Ich war eigentlich der störende Dritte, musste mich indessen nicht so fühlen.

Wir alle brauchen gelegentlich Ausbrüche aus dem Alltag. Allein die Geselligkeit beim Kaffeetrinken oder Jassen lässt uns vieles vergessen. Wir leben in solchen Momenten, geben uns dem unbeschwerten Sein hin und lassen es uns gut gehen. So ausgelassen, wie Pierrot dieses Bedürfnis stillte, wäre das heute kaum mehr möglich. Wohlfühltage im zeitlosen Hier und Jetzt deckt die Versicherung nicht ab! Es müsste zumindest medizinisch korrekt verbrämt sein, zum Beispiel so: «Patient Pierrot hat sich in Absprache mit der Oberärztin am 12. November zur Bewältigung seiner traumatischen Erfahrungen eine eintägige Auszeit genommen. Der psychologische Dienst sowie der Sozialdienst haben den Vorgang begleitet und erfolgreich abgeschlossen.»

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