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Wissenschaft

Befund: «Reparatur wahrscheinlich möglich»

Das verletzte Rückenmark kann sich dank Antikörpern und Training erholen. Die Wirksamkeit wird jetzt getestet.

Das verletzte Rückenmark kann sich dank Antikörpern und Training erholen. Die Wirksamkeit wird jetzt getestet.

Noch vor 30 Jahren wussten alle, dass wir mit unserer medizinischen Kunst das verletzte Rückenmark nicht reparieren können und dass selbst noch so viel Training nichts nützt. Inzwischen sind wir klüger geworden.

Mit gezielten therapeutischen Übungen können wir das Ausspriessen von Nervenfasern sehr wohl begünstigen. Als Betroffene sind wir schon mit kleinen Verbesserungen zufrieden. Dabei hilft uns, dass es komplexe und weniger komplexe Abläufe gibt.

Die Entwicklung von Kleinkindern veranschaulicht das am besten: Die Blase und den Darm entleeren können sie schon bei ihrer Geburt; mit einem Lebensjahr ist das Nervensystem bereits so weit entwickelt, dass sie stehen können. Es braucht für diese Vorgänge wenig Verschaltungen im Rückenmark. Graziös Ballett tanzen jedoch können sie erst Jahre später, nachdem sie viel geübt haben.

mann im lokomat mit helferin

Nach neuem Wissensstand nützt Training eben doch. Wir regen damit die Nervenfasern im Rückenmark an.

Nervenfasern wachsen langsam

Das bedeutet, auch das Rückenmark ist trainierbar, ist gemäss Fachjargon «plastisch», wenn auch weniger als das Gehirn. Bei uns mit unseren Rückenmarksverletzungen kommt erschwerend hinzu, dass die Verletzung oft Löcher – Mediziner reden von «Kavernen» – oder Narben im Mark hinterlässt. Selbst bei schnellem Wachstum müssten sich nachspriessende Fasern den Weg suchen, der direkte ist versperrt.

Wenn überhaupt, wachsen die Nervenfasern im Zentralnervensystem nie schnell nach, am langsamsten im Rückenmark. Bestimmte hemmende Eiweisse wirken zudem bremsend. Ein prominentes unter ihnen hat Professor Dr. Martin Schwab schon Ende der achtziger Jahre isoliert und ihm den Namen Nogo-A gegeben. Um seine wachstumshemmende Wirkung auszuschalten, hat er in der Folge die Nogo-A-Antikörper entwickelt.

prof. dr. martin schwab

Professor Martin Schwab (70) strebt unermüdlich nach seinem Ziel, mit seinen Antikörpern die Folgen von Rückenmarkverletzungen zu lindern.

Tests laufen seit Mai 2019

Diese Antikörper werden seit dem 15. Mai 2019 in 14 Paraplegikerzentren in ganz Europa auf ihre Wirksamkeit getestet. Ende September 2022 gibt es einen ersten Zwischenabschluss, ein weiteres Jahr später ist die Studie abgeschlossen. Letztmals habe ich am 25. Juni 2016 über den Beginn dieser sogenannten NISCI-Studie berichtet.

132 frisch verletzte Patienten mit einer kompletten Tetraplegie sollen sich gemäss Plan freiwillig an diesen Versuchen beteiligen. Bislang haben 32 Probanden während 14 Tagen die Antikörper direkt ins Rückenmark gespritzt bekommen. Allerdings: Einige unter ihnen – die Kontrollgruppe – erhalten ein nicht wirksames Placebo. Keine der direkt beteiligten Personen weiss, wer was bekommen hat. «Doppelblind» nennt sich diese Vorgehensweise, die höchste Wissenschaftlichkeit gewährleistet.

regenerierende wirkung der nogo a antikörper

Nogo – ein Eiweiss – bremst ausspriessende Nervenfasern ab.

Es geht so lange

Die hohen Anforderungen bringen es mit sich, dass in der Entwicklung neuer Heilsubstanzen alles furchtbar lange geht und dass wir erst am Ende der Studie wissen, ob die Antikörper überhaupt etwas bewirken und – falls ja – was.

Für uns als betroffene Patienten ist diese Frage schon fast nebensächlich, denn verlieren können wir nichts. Die Antikörper sind verträglich und schaden nachweislich nicht. Mithin können wir nur gewinnen.

Auf dem heutigen Stand dürfen wir davon ausgehen, dass wir am besten fahren, wenn wir Heilmittel und gezieltes Training kombinieren. Bei günstigem Verlauf können wir auf diesem Weg einfache, also nicht komplexe Funktionen wiederherstellen. Zugute kommt uns dabei, dass diese einfachen Vorgänge die lebenswichtigsten sind. Balletttänzer brauchen wir nicht zu werden.

prof. dr. martin schwab mit seinem team

Wissen, was im Rückenmark läuft und nicht läuft: Martin Schwab und sein Team.

Wer sind «wir»? Das fragen wir uns jetzt alle. «Nur die ausgewählten Probanden», antworten die Verantwortlichen der NISCI-Studie, demnach nur frisch Verletzte. Es ist zurzeit nicht absehbar, dass auch wir, die seit langem Rückenmarksverletzten, uns je diese Antikörper verabreichen lassen können.

Dabei wären wir gerne bereit dazu. Manche von uns haben ja bereits ein Pümpchen implantiert: Es träufelt das Antispasmolytikum Lioresal (Baclofen) direkt ins Rückenmark. Gewiss würde es das auch mit den Antikörpern tun!?

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