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Wissenschaft

Wenn wir wünschen könnten...

Die meisten würden die Wunderfee bitten, ihre Schmerzen zu lindern. Blase und Darm folgen, vielleicht auch der Sex

Die meisten würden die Wunderfee bitten, ihre Schmerzen zu lindern. Blase und Darm folgen, vielleicht auch der Sex

«Lieber läuft’s zwischen den Beinen, als dass die Beine laufen.» So lässt sich, flapsig formuliert, zusammenfassen, was die Befragungen im Rahmen der SwiSCI-Studien ergaben. Leserfreundlich zusammengefasst sind sie im Bericht zur Wirkungsmessung 2019, der die Aktivitäten der Schweizer Paraplegiker-Stiftung untersuchte. Wir haben schon darüber berichtet.

Auf der Toilette war’s schon immer scheisse

Allein die Benützung der Toilette bereitet 55 Prozent der Betroffenen Schwierigkeiten. 59 Prozent bereitet es Mühe, den Unterkörper zu waschen. 63 Prozent leiden unter Harnwegsinfekten, 73 Prozent der Befragten gaben an, Störungen der Sexualität zu haben.

Demgegenüber sind 68 Prozent zufrieden mit der «ausserhäuslichen Mobilität». Das bedeutet: Sich in einem Rollstuhl fortbewegen zu müssen, bereitet offenbar weniger Mühe, als sich mit dem Unterkörper und seinen beeinträchtigten Funktionen zu quälen. Ein weiteres Befragungsresultat bestätigt diese These: Nur 14 Prozent beklagen sich darüber, dass ihr Leben erschwert ist, weil ihnen öffentliche Orte nicht zugänglich sind.

Auch ich mit meinen 45 Dienstjahren mit inkompletter Tetraplegie kann bestätigen, was die meisten hinter vorgehaltener Hand schon immer angedeutet haben: Am beschissensten ist’s auf der Toilette, und zwar vorne und hinten. Nur wenige fügten an: «Und im Bett beim Liebesspiel». Dazu trägt natürlich bei, dass es unüblich ist, offen über Sex zu sprechen.

herzen banane und kondome

Sex ist vielen von uns wichtig, aber wir reden ungern darüber.

Wir jammern trotzdem nicht

Wir vermeiden es generell, über Fehlfunktionen unseres Organismus zu berichten. Das gilt nach meinen Beobachtungen für alle Menschen, nicht nur für Para- und Tetraplegiker. Es scheint uns wichtiger zu sein, grundsätzlich zuversichtlich zu sein und nicht zu jammern. Gesundheitliche Lasten schieben wir in den Hintergrund, solange es geht.

So neigen wir als «Menschen mit einer Querschnittlähmung» dazu, das Beste aus dem zu holen, was uns verblieben ist. Das Krankheitsbild lässt sich eh nicht heilen. So deute ich es, wenn immerhin 57 Prozent antworten, mit ihrer Gesundheit zufrieden zu sein, mit den «Lebensbedingungen» sind es sogar 88 Prozent. Das bezeugt doch, wie lebensbejahend wir eingestellt sind!

glas halbvoll oder halbleer

In unserer Zuversicht gehen wir mehrheitlich davon aus, dass das Glas halbvoll und nicht halbleer ist.

Ein Film bricht das Eis

Jeder und jede findet einen eigenen Weg, trotz erschwerten Bedingungen gut zu leben – auch im Liebesnest. 1978 spülte der Film «Coming Home» an die Oberfläche, was es mit Sex und Paraplegie so auf sich hat. Der Streifen aus Hollywood ging um die Welt.

Er zeigte, wie es einem Soldaten erging, der als Paraplegiker aus dem fürchterlichen Krieg in Vietnam zurückgekehrt war. Die attraktive Jane Fonda verführt ihn. Die berühmt gewordene Liebesszene hat den Typus des Paraplegikers zum durchaus begehrenswerten Liebhaber erhoben, wird seither behauptet. Das mag übertrieben sein, ganz unwahr ist es freilich nicht.

Trailer des Films «Coming Home» aus dem Jahr 1978 (auf Englisch).

Der Film traf den Zeitgeist, die Menschen wussten plötzlich, was Paraplegie ist und redeten darüber. Ebenfalls 1978 schrieben drei angehende Therapeutinnen an der Schule für Ergotherapie in Zürich zusammen eine Diplomarbeit über «Querschnittlähmung und Sexualität». 1979 kam der Schweizer Film «Behinderte Liebe» in die Kinos.

Trailer des Schweizer Films «Behinderte Liebe» (1979).

Die Fee muss die Wunschliste erweitern

«Du hast einen Wunsch frei: Du kannst entweder wieder aufrecht gehen oder normal ausscheiden oder Sex wie vor der Rückenmarkverletzung haben. Oder du wirst von Spastik oder Schmerzen befreit.» Was würden wir der Fee antworten, die uns verspricht, einen dieser Wünsche zu erfüllen?

Gleich nach dem Verletzungseintritt sind wir überwältigt, uns nicht mehr bewegen zu können, nichts mehr zu spüren. Wohl die meisten würden deshalb auf das Gehen setzen, einige auf den Sex. Erst nach einer gewissen Zeit im Rollstuhl würden es vermutlich mehr, die sich wünschten, die Fee möge die vegetativen Funktionen wieder herstellen.

Wahrscheinlich würden nicht wenige die Fee bitten, sie von ihren Schmerzen zu befreien. 83 Prozent leiden darunter. Spastik plagt 77 Prozent. Die Fee könnte anbieten, den Tonus zu senken. Ich selbst würde ihr um den Hals fallen, wenn sie mich durchschlafen liesse. Ich gehöre zu den 63 Prozent, deren Schlaf gestört ist.

Die Fee hat unterschätzt, wie viel es für sie zu tun gibt.  

Bewertung: 5 / 5

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