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«Game of Thorns» der Rollstuhlfahrer
Gesellschaft

«Game of Thorns» der Rollstuhlfahrer

Der Kampf um Intimsphäre, Sicherheit und Unabhängigkeit

Der Kampf um Intimsphäre, Sicherheit und Unabhängigkeit

In der berühmten TV-Fantasy-Serie «Game of Thrones» kämpfen die Charaktere um das Erbe des Eisernen Throns: Der Thron des Königs der Sieben Königreiche.

In der Realität haben Rollstuhlfahrer eine andere Art von Konflikt. Er ist nicht so gewaltsam wie in der Fantasy-Serie, doch sicherlich frustriert er viele Rollstuhlfahrer seit langem. Schliesslich haben einige von ihnen beschlossen, die Dinge selbst ihn die Hand zu nehmen – sie bauten ihre Rollstuhl-Abwehr aus. Hier die Story ihres «Game of Thorns» (DE: Dornen).

Abwehr vor ungewünschtem Anfassen und Schieben

Zwei Rollstuhlfahrerinnen, eine aus Kanada und eine aus Grossbritannien, hatten mehrfach erlebt, dass Fremde sie einfach ohne vorherige Zustimmung herumschoben. Aus diesem Grund entschlossen sich beide dazu, Spikes – eine Art künstliche Dornen – an den Handgriffen ihrer Rollstühle anzubringen.

Spikes on wheelchair handle

Handgriffe mit Spikes für Rollstuhlfahrer, um ungewünschtes Schieben zu verhindern. (Quelle: www.bbc.com)

Die kanadische Rollstuhlfahrerin Bronwyn Berg hat von ihrem Partner selbst angefertigte Griffe mit Spikes an ihrem Rollstuhl installiert – dies nachdem sie jedes Mal nervös wurde, wenn sie Schritte näherkommen hörte. Einmal nahm ein Fremder Bronwyns Rollstuhl und rannte damit die Strasse hinunter. Der Fremde schob sie immer weiter und trotz Bronwyns wiederholter Hilferufe kam ihr niemand zur Hilfe. Mit den Spikes an den Rollstuhlgriffen fühlt sie sich nun sicherer.

Sarah J. Waters aus Grossbritannien machte ähnliche Erfahrungen und wurde dabei verletzt. Sie leidet am Hypermobilitäts-Syndrom, d. h. ihre Gelenke können leicht auskugeln und brechen. Es passierte zwei Mal, dass Fremde sie in ihrem Rollstuhl schoben, ohne vorher zu fragen. Einmal brachen so ihre Handknöchel; das andere Mal wurde ihr Daumen aufgerissen, weil sie das Rad festhielt, als sie unerwartet nach vorn bewegt wurde. Wie Bronwyn beschloss auch Sarah, Spikes zur Verteidigung ihrer Intimsphäre und Sicherheit zu installieren.

Körperliche Selbstbestimmung – eine ernste Angelegenheit

Es gab unterschiedliche Reaktionen auf die Spikes an den Handgriffen. Einerseits sind sich die Menschen ihrer Handlungen bewusster. Seit die Griffe installiert sind, erleben Bronwyn und Sarah weniger solcher Situationen. Andere Menschen wiederum fühlen sich beleidigt, wenn sie die Spikes an den Handgriffen sehen, oder sehen sie als Zeichen für Paranoia.

So wie viele Nichtbehinderte behinderte Menschen fälschlicherweise als schwach und ständig hilfsbedürftig betrachten, verstehen sie auch den Zweck der Spikes nicht. Bronwyn stellte klar, dass die Griffe Menschen weder wehtun noch sie daran hindern sollen, Rollstuhlfahrern Hilfe anzubieten. Tatsächlich ignorierten viele ihre Bitten um Hilfe.

Ungebetene Hilfe ist dagegen oft problematisch und kann körperliche und psychische Schäden zur Folge haben. Weiter erklärte sie,

«Unsere Hilfsmittel gehören zu unserem Körper. Wir sind keine Möbelstücke, die man herumschieben kann.»

Für Bronwyn ist es eine Grundregel – und andere Rollstuhlfahrer würden ihr zustimmen –, dass ein Rollstuhl ohne Erlaubnis niemals angefasst werden darf. Jeder, ob mit oder ohne Behinderung, sollte immer vorher fragen und die Antwort abwarten, bevor er handelt. Ausser dem Verletzungsrisiko geht es dabei um den Respekt der Selbstbestimmung über den eigenen Körper – ein allgemeines Menschenrecht.

Wheelchair taboo

Ein Tabu bei Rollstuhlfahrern: Anfassen des Rollstuhls ohne Erlaubnis. (Quelle: www.wikihow.com)

Folgen von Ableismus und fehlendem Wissen

Gemäss einer in Kanada durchgeführten Studie ist für Menschen mit einer sensorischen oder körperlichen Behinderung die Wahrscheinlichkeit, Opfer von Gewalt zu werden, doppelt so hoch wie für Menschen ohne Behinderung. Eine andere in Grossbritannien durchgeführte Studie zeigte, dass über 60 % der britischen Bevölkerung sich unwohl fühlen, wenn sie mit Behinderten sprechen. Zur Verbesserung dieser Situation sind mehr Kommunikation und Bildung über Behinderung dringend notwendig.

Dr. Amy Kavanagh, eine Aktivistin mit Sehbehinderung, startete 2018 die Kampagne #JustAskDontGrab, um das Bewusstsein dafür zu erhöhen, was bei der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen zulässig ist. Wie im Video unten zu sehen, greifen Menschen häufig die Person, der sie helfen möchten, ohne Zustimmung am Arm. Viele realisieren nicht, dass ihre guten Absichten in Wirklichkeit sehr übergriffig sind.

Die Kampagne stösst bei vielen Menschen mit Behinderungen auf grosse Resonanz; sie teilen ihre Erfahrungen mit Misshandlung und häufig festgestellte falsche Vorstellungen über Behinderung in den sozialen Netzwerken. So rufen beispielsweise Mobilitätshilfen wie Rollstühle ständig Mitleid hervor. Die Nichtbehinderten nehmen die Unabhängigkeit und die positiven Beziehungen kaum wahr, die Menschen mit ihren Mobilitätshilfen haben.

Die Entwicklung einer Behindertenkultur und -etikette

Ein weiterer Ansatz, Menschen über Behinderung zu bilden, stammt von Andrew Pulrang, einem selbständigen Schriftsteller aus den USA mit angeborener Behinderung. In einem Forbes-Artikel diskutierte er Behindertenkultur damals und heute und brachte einen «neu gedachten» Leitfaden für Behindertenetikette heraus.

Da sich die Behindertenkultur kontinuierlich weiterentwickelt, so Andrew, akzeptieren Menschen mit Behinderungen gewisse Vorstellungen und Verhaltensweisen heute etwas besser. Beispielsweise stellt er einen kulturellen Wandel des behinderungsbezogenen Sprachstils bei Menschen mit Behinderungen fest. Während ältere Generationen mit Behinderung eher die person-first-Sprache bevorzugen würden, wie z. B. in «Person mit einer Behinderung», wählen jüngere oft die identity-first-Sprache, wie z. B. in «behinderte Person» oder «ich bin behindert». Sie verbinden damit vielmehr Stolz als ein negatives Label.

Des Weiteren schrieb er, dass Menschen mit Behinderung es einigermassen gelernt haben, ein positives Leben mit Behinderung zu führen und Unwissen mit Information zu begegnen. Während all dies als eine bewusste Entscheidung praktiziert werden sollte, würden viele diese optimistischen Qualitäten von Menschen mit Behinderungen erwarten.

Behinderten Etikette

Wie viel wisst Ihr über Behindertenetikette? (Quelle: www.cpp.edu)

Die obigen Punkte und der Einfluss der sozialen Medien, wo über Behinderung offener diskutiert wird, brachten Andrew zum folgenden Vorschlag für einen neu gedachten Leitfaden für Behindertenetikette:

  1. Es ist in Ordnung, eine Person auf ihre Behinderung anzusprechen oder dazu zu befragen, wenn es in der Situation relevant ist.
  2. Es wird dazu ermutigt, einer behinderten Person Hilfe anzubieten, doch es darf niemals gegen deren Willen gehandelt werden. Menschen sollten zuhören und Respekt zeigen.
  3. Versuche nie, behinderte Menschen darüber zu belehren, wie sie über ihre eigene Behinderung denken oder sprechen sollten.
  4. Jeglicher ungebetene medizinische, emotionale oder praktische Rat an behinderte Menschen ist zu unterlassen.
  5. Übernehme Verantwortung für Deinen Umgang mit behinderungsbezogenen Gefühlen und für Deine Bildung in Behindertenfragen.
  6. Vermeide sinnlose Versuche, das Unhaltbare zu verteidigen. Entschuldige Dich, wenn Dir ein Fehler bzgl. Behinderung passiert, und fahre fort.

Was haltet Ihr von den Spikes auf den Handgriffen und von der neu gedachten Behindertenetikette? Wie vermeidet und löst Ihr Konflikte mit nichtbehinderten Personen?

Bewertung: 3 / 5

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