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Gesellschaft

Inbegriffen, separat oder verweigert?

Im Umgang mit Trinkgeldern und mit Behinderten zeigen sich vergleichbare Entwicklungen und Verhaltensweisen.

Im Umgang mit Trinkgeldern und mit Behinderten zeigen sich vergleichbare Entwicklungen und Verhaltensweisen.

Falls überhaupt was: Wie viel kriegt sie?

Seit dem 1. Juli 1974, vor fast genau 45 Jahren, sind bei uns in der Schweiz 15 Prozent Servicezuschlag in allen Restaurants inbegriffen. Zuvor war lange nicht einheitlich geregelt gewesen, wieviel dem Servicepersonal zusteht. Die Schweiz hinkte der Entwicklung im Ausland hinterher. Dies führte dazu, dass manche Bedienungen es als entwürdigend empfanden, für ihr Auskommen gewissermassen als Bittsteller auf das Wohlwollen des Gastes angewiesen zu sein.

Nach jahrelangen Auseinandersetzungen regelte 1974 die neue Vereinbarung zwischen den Gewerkschaften, dem Hotelierverein und dem Wirteverband die Trinkgeldproblematik. Sie stellte die Mitarbeitenden im Service etwas besser. Grossverdiener wurden sie deswegen nicht, die bescheidene Entlöhnung war aber solider abgesichert.

Trinkgeld steht für Wertschätzung.

Inzwischen ist der pauschale Zuschlag einfach Bestandteil des Gehalts, im besten Falle eine Umsatzbeteiligung, die zur typischen Frage führt: «Darf ich Ihnen noch eine Vorspeise empfehlen?» Als Gast möchten wir aber was anderes, nämlich den – hoffentlich – charmanten Service zusätzlich belohnen. Wohl deshalb hat es sich inzwischen wieder eingebürgert, dass wir zumindest aufrunden, oft aber 5 bis 10 Prozent mehr bezahlen. Wir sind wieder beim System der separaten persönlichen Belohnung angelangt. Sie steht für unsere Wertschätzung. Verweigern wir sie, ist es Ausdruck von Geringschätzung und Kleinherzigkeit.

30 Jahre nach Einführung des schweizweiten Bedienungszuschlags, im Jahre 2004, trat das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft. Die Schweiz war auch hier eine der letzten Industrienationen, die den Status von Menschen mit Behinderung gesetzlich aufzuwerten versuchte. Das neue Gesetz sollte darüber hinwegtrösten, dass am 18. Mai 2003 62 Prozent der Stimmberechtigten die Volksinitiative «Gleiche Rechte für Behinderte» abgelehnt hatten. Die Vision hinter dieser Initiative war, dass Behinderte in unserer Gesellschaft gleichberechtigt «inbegriffen» sind – wie das Trinkgeld im Preis für den Wurstsalat, den ich bestellt habe.

Die Regenbogenfarben bedeuten Gleichstellung aller. Erzwingen können wir das nicht.

Diese Vision hat sich in verwässerter Form im neuen Gesetz niedergeschlagen. Es stellt Menschen mit Behinderung etwas besser. Sie sind eindeutig nicht mehr separiert und geniessen mehr Chancengleichheit. Wirklich «gleich» sind sie trotzdem nicht. So suchen wir den Begriff «Gleichstellung» auch vergebens im «BehiG». Tatsächlich heisst das Gesetz nämlich bescheidener, aber realitätsnah «Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen».

Es beseitigt im Wesentlichen bauliche Hindernisse und sieht vor, dass öffentlich zugängliche Bauten und Transportmittel zugänglich, sprich rollstuhlgängig sein müssen. Dazu gehören alle Schulen, Verwaltungsgebäude, grosse Mietbauten, Firmensitze, aber auch Hotels. Gleichermassen Trams, Züge, Schiffe und Flugzeuge. Dank diesen Vorgaben setzt das Gesetz, wie es in der Präambel heisst, «Rahmenbedingungen, die es Menschen mit Behinderungen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und insbesondere selbstständig soziale Kontakte zu pflegen, sich aus- und weiterzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben.»

Alles, was darüber hinausgeht, bleibt dem Ermessen unserer lieben Mitmenschen überlassen. Wie in der – inzwischen ebenerdig zugänglichen – Wirtsstube: Der Wurstsalat und das Bier kosten 23.40. Ich lasse es mit 25 gut sein, der am Tisch nebenan zählt es auf den Rappen ab. Er ist nicht verpflichtet, dem Kellner separat was zu geben. Auch mit dem Behinderten braucht er nicht zu plaudern, er kann sich von ihm abwenden, ihn auch zu Zeiten des «BehiG» separieren.

Wir können Visionen ganz oder teilweise in Gesetze einfliessen lassen. Die erforderliche Haltung, um sie im gelebten Alltag umzusetzen, können wir den Menschen aber nicht aufzwingen.

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