Den Wert der grössten Minderheit der Welt anerkennen
- 5 Minuten Lesezeit
- 11. Mai 2020
- kitwan
Den Wert der grössten Minderheit der Welt anerkennen
Nach Angaben der Vereinten Nationen (UNO) ist die offizielle Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderungen in den meisten Industrieländern mindestens doppelt so hoch wie von Menschen ohne Behinderungen. In den Entwicklungsländern liegt die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderungen im erwerbsfähigen Alter (generell 15 bis 64 Jahre) bei 80 % oder höher.
Auch heute noch betrachten viele Menschen «Behinderung und Arbeitslosigkeit» hauptsächlich als Menschenrechtsfrage, die nur Menschen mit Behinderungen betrifft – die grösste Minderheit der Welt. Diese Einstellung muss sich ändern, denn es gibt immer mehr Belege dafür, dass Inklusion von Behinderungen nicht nur für Menschen mit Behinderungen entscheidend ist: Sie hat einen positiven Einfluss auf Unternehmen und wäre in der Tat eine Lösung für die globale Wirtschaft und viele andere Aspekte.
Alarmierende Arbeitslosenzahlen
Die UNO schätzt, dass weltweit über 380 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter in irgendeiner Form behindert sind. In der Schweiz wird die Zahl der Menschen mit Behinderungen auf rund 1.7 Mio. geschätzt. Gemäss dem Bundesamt für Statistik sind 68 % dieser Bevölkerungsgruppe im Alter zwischen 16 und 64 Jahren erwerbstätig. Bei Menschen mit schweren Behinderungen sinkt die Beschäftigungsquote auf lediglich 42 %.
Im Vergleich zu den USA, wo nur 29 % der Menschen mit Behinderungen im erwerbsfähigen Alter eine Arbeitsstelle haben, ist die Schweiz bei der Integration von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt deutlich weiter. Dennoch liegt in der Schweiz die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderungen um mindestens 15 % unter der von Menschen ohne Behinderungen. Der Bund und die Unternehmen in der Schweiz sind verpflichtet, ihre Massnahmen auszuweiten, um die Inklusion von Menschen mit Behinderungen vollständig in die Praxis umzusetzen.
Eine Lösung für den weltweiten Arbeitskräftemangel
Im Jahr 2014 führte die Boston Consulting Group (BCG), eine weltweit tätige Unternehmensberatungsfirma, eine Studie durch, um das Ausmass des Arbeitskräftemangels oder -überschusses in 25 Ländern zwischen 2020 und 2030 zu berechnen und zu schätzen. Für zehn Länder, darunter Deutschland, Italien und Frankreich, prognostizierte die BCG für das laufende Jahrzehnt einen Arbeitskräftemangel. Allein in Deutschland werden im Jahr 2030 schätzungsweise 8.4 bis 10 Mio. Arbeitskräfte fehlen, um die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zu decken. Darüber hinaus wird erwartet, dass der globale Bedarf an Arbeitskräften aufgrund sinkender Geburtenraten und einer alternden Bevölkerung steigen wird.
Die Einfuhr ausländischer Arbeitskräfte ist in vielen Ländern eine gängige Lösung für den Arbeitskräftemangel. Oft übersehen Arbeitgeber die Talente und die Unterstützung, die eine grosse Zahl von Menschen mit Behinderungen aus der Region bieten können. Eine Forschungsbericht aus den USA schätzt, dass Unternehmen, welche die Inklusion verbessern, mehr als 10.7 Mio. Menschen mit Behinderungen als Arbeitskräfte zur Verfügung haben werden.
Gemäss der BCG-Studie würde ein Arbeitskräftemangel das Wirtschaftswachstum behindern, was zu einer Lohninflation führen sowie die Gründung und Entwicklung von Unternehmen hemmen würde. Wenn die Inklusion am Arbeitsplatz verbessert wird, erhalten Menschen mit Behinderungen bessere Chancen auf Erwerbstätigkeit und tragen so zur Linderung des Arbeitskräftemangels bei. Um dies zu erreichen, muss sich die Sichtweise der Menschen ändern.
Mythen und Fakten der Inklusion
Falsche Vorstellungen – zum Beispiel, dass Menschen mit Behinderungen arbeitsunfähig sind oder dass es teuer ist, Mitarbeiter mit Behinderungen einzustellen – sind heutzutage immer noch weit verbreitet. Diverse Studien haben jedoch bewiesen, dass sie nicht zutreffen.
Eine dieser Studien wurde vom Job Accommodation Network (JAN) durchgeführt, einem vom Arbeitsministerium der USA finanzierten Dienst. Seit 2004 wird eine laufende Umfrage mit über 2700 Arbeitgebern in den USA durchgeführt. 776 Arbeitgeber stellten dem JAN die Informationen über die Kosten im Zusammenhang mit den Arbeitsplatzanpassungen für behinderte Arbeitnehmer zur Verfügung. 58 % gaben an, dass die von ihren Mitarbeitern benötigten Arbeitsplätze nichts kosten, da viele bestehende Büroeinrichtungen bereits behindertengerecht seien. Für 37 % entstanden einmalige Kosten, während nur 4 % angaben, dass die Anpassungen zu laufenden, jährlichen Kosten für das Unternehmen geführt haben. Die Umfrage ergab auch, dass die durchschnittlichen einmaligen Kosten für die Anpassung eines Arbeitsplatzes bei nur 500 US-Dollar pro Mitarbeiter lagen.
Im Jahr 2018 führte Accenture zusammen mit Disability:IN und der American Association of People with Disabilities (AAPD) eine weitere Studie durch, die den Zusammenhang zwischen der Inklusionspolitik und der Leistung von Unternehmen aufzeigte. Sie stellten fest, dass Unternehmen mit Massnahmen zur Eingliederung von behinderten Mitarbeitern nicht nur von einem verbesserten Ansehen profitieren, sondern auch mehr Innovation, höhere Produktivität und grössere Marktanteile aufweisen. Sie betonen:
«Mitarbeiter mit Behinderungen abteilungsübergreifend im Unternehmen zu haben, trägt dazu bei, dass die Produkte und Dienstleistungen, die auf den Markt kommen, wirklich inklusiv sind.»
Ein grosser Gewinn für Unternehmen
Das Vorausdenken von Menschen mit Behinderungen, ihre einzigartige Perspektive und ihre Experimentierfreudigkeit sind wertvolle Eigenschaften, die von allen Unternehmen und Betrieben dringend benötigt und gesucht werden. Ein vielfältiges Arbeitsumfeld aus Menschen mit und ohne Behinderungen hilft Mitarbeitern ohne Behinderungen, Dinge jenseits ihrer Vorstellungskraft und Erfahrung in Betracht zu ziehen. Dabei kann es sich um Zugänglichkeitsprobleme handeln, denen Kollegen mit Behinderungen ausgesetzt sind, oder um die Entwicklung inklusiver Produkte und Geschäftsstrategien.
Anders als viele Arbeitgeber vermuten würden, können Arbeitnehmer mit Behinderungen zuverlässiger und loyaler sein als solche ohne Behinderungen. Mehrere Studien fanden heraus, dass Menschen mit Behinderungen gleich viele oder weniger Arbeitsunfälle haben als ihre Kollegen ohne Behinderungen. Menschen mit Behinderungen wechseln auch seltener den Job als andere Arbeitnehmer. Dies hilft, die Fluktuation im Unternehmen zu mindern und seine Effizienz zu erhalten, da häufige Neueinstellungen und Schulungen neuer Mitarbeiter entfallen.
Jede Anstrengung eines Unternehmens für die Inklusion von Behinderungen kann einen Unterschied machen. Welche Erfahrungen habt Ihr – als Arbeitgeber oder als Person mit einer Behinderung – mit Inklusion am Arbeitsplatz gemacht?