Welche Dinge machen das Leben für Philippiner mit Querschnittlähmung einfacher und welche schwieriger? Unsere philippinische Autorin Andrea berichtet
- 8 Minuten Lesezeit
- 21. Oktober 2022
- Andrea Kryzel Abrojena
Welche Dinge machen das Leben für Philippiner mit Querschnittlähmung einfacher und welche schwieriger? Unsere philippinische Autorin Andrea berichtet
Jobelles Weg zurück ins Leben
Jobelle (35) lebt in Cainta Rizal auf den Philippinen, in Asien. Sie ist seit elf Jahren querschnittgelähmt.
Bevor sie die Querschnittlähmung bekam, genoss Jobelle ihr Leben. Während ihrer Studienzeit war sie überall unterwegs: Sie bereiste viele Orte auf den Philippinen und besuchte oft ihre Familie in anderen Provinzen. Sie schloss ihr Studium ab. Monate vor dem Unfall begann sie in einem Hotel zu arbeiten.
Im April 2011 hatte sie einen Motorradunfall. Zunächst dachte der Arzt, sie sei bettlägerig geworden; deshalb erhielt Jobelle eine Titanklammer für ihre Wirbelsäule. Doch einen Monat nach der Operation stellte man fest, dass sie in der Lage war, wieder aktiver zu werden. Nach acht Monaten wurden die Titanklammern entfernt und Jobelle erhielt ein Jahr lang Physiotherapie. Danach war sie in der Lage, sich freier zu bewegen und zu arbeiten.
In einem Interview für diesen Blog hat Jobelle jedoch geäussert, dass sie wegen ihrer Schmerzen deprimiert ist. Ihretwegen fällt es ihr schwer, morgens aufzuwachen. «Ich bin deprimiert wegen der Schmerzen, die ich erlebe. Die körperlichen Schmerzen sind sehr traumatisch für mich, bis heute», sagt sie.
Familie ist sehr wichtig, Unabhängigkeit dagegen nicht
Welche Faktoren erleichtern das Leben für Menschen mit Querschnittlähmung auf den Philippinen? Für Jobelle ist ihre Familie der wichtigste Faktor. Zum Beispiel weinte Jobelle nach dem Unfall monatelang und wollte unbedingt wieder laufen.
«Aber meine Familie hat mir gesagt, dass ich sehr stark bin, also macht es mir nichts aus, dass ich nicht wieder laufen kann, weil meine Familie immer für mich da ist.»
Dank ihrer Familie konnte Jobelle diese Zeit überstehen. Und auch jetzt, elf Jahre nach dem Unfall, sagt sie: «Sie sind sehr wichtig für mich als Unterstützer. Wenn ich mich nicht selbst fortbewegen kann, sind sie immer für mich da. Sogar für meine Tochter.»
So geht es auch vielen anderen Philippinern mit Querschnittlähmung: Sie können sich darauf verlassen, dass ihre Familien immer für sie da sind. Diese Unterstützung ist Teil der philippinischen Kultur. Wie in dieser Studie erwähnt, schätzen Philippiner Unabhängigkeit als nicht so wichtig ein wie Menschen in westlichen Ländern. Sie sind eine Gemeinschaft, in der es normal und richtig ist, sich gegenseitig zu helfen. Philippiner mit Querschnittlähmung sind in der Regel froh, soziale Unterstützer und Helfer zu haben, und sie haben keine Probleme damit, Almosen zu erhalten.
Die Organisation «Haus ohne Treppe» macht das Leben normaler
Derzeit profitiert Jobelle von Tahanang Walang Hagdanan (TWH), einer Nichtregierungsorganisation für Menschen mit Behinderungen, die Rehabilitationsdienste und geschützte Arbeitsplätze anbietet. Dank TWH hat sie eine Stelle als Verpackerin von Medikamenten für ein Pharmaunternehmen. Sie ist mit dieser Arbeit und mit ihrer Tochter sehr ausgelastet. Daher hat sie keine Zeit für Hobbys.
An einem normalen Tag steht sie früh auf, zwischen 4 und 5 Uhr. Dann macht sie ihrer Tochter Frühstück. Um 7 Uhr geht sie zur Arbeit. Wenn sie sich richtig anstrengt, kann sie manchmal schon um 17 Uhr nach Hause gehen. Doch normalerweise muss sie Überstunden machen und gegen 19 Uhr nach Hause gehen.
Trotz ihres harten Alltags ist Jobelle froh, Teil der Organisation Tahanang Walang Hagdanan zu sein. Übersetzt bedeutet das «Haus ohne Treppe». Rund 90 % der Menschen in der Organisation haben eine Behinderung. Laut Jobelle ist es eine Gemeinschaft, in der sich die Menschen kennen und verstehen und sehr gut miteinander kommunizieren. Sie sind alle glücklich damit, wo sie sind.
«Es ist zwar schwierig für uns, jeden Tag zu arbeiten, aber wenigstens leben wir wie normale Menschen. Tahanang Walang Hagdanan gibt uns ein normales Leben.»
Jobelle berichtet, dass Cainta Rizal – die Stadt, in der sich TWH befindet – behindertenfreundlich ist. Die Stadt hat den höchsten Anteil von Menschen mit Behinderungen auf den Philippinen, so dass die meisten Einrichtungen zugänglich und die Menschen sehr entgegenkommend sind. Philippiner sind generell hilfsbereit und gastfreundlich, sagt Jobelle. «Selbst wenn wir nicht danach fragen, selbst wenn es keinen Weg gibt – sie finden einen.»
Transport und Zugänglichkeit sind auf den Philippinen schlecht
Doch ausserhalb von Cainta Rizal, stellt Jobelle fest, sind die meisten öffentlichen Plätze und Gebäude für Menschen mit Querschnittlähmung nicht zugänglich. Ein grosses Problem sind die öffentlichen Verkehrsmittel. Um sich fortzubewegen, müssen Rollstuhlfahrer ein Auto mieten, was sehr teuer ist und sich viele behinderte Menschen nicht leisten können.
Ein weiteres grosses Hindernis ist laut Jobelle, dass die meisten Philippiner ausserhalb von Cainta Rizal die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen nicht kennen. Sie wollen zwar helfen, können es aber nicht, da ihnen das Bewusstsein und Wissen fehlen. Seht Euch zum Beispiel diese Rampe vor einem Restaurant an, die viel zu steil ist, als dass sie einem Rollstuhlfahrer helfen könnte.
Erschwerend kommt hinzu, dass selbst wenn Gebäude zugänglich gemacht werden, dies nicht für immer so bleiben muss, wie dieses Bild zeigt.
Nach draussen gehen ist gefährlich – drinnen bleiben kann es auch sein
Auf den ersten Blick erscheint das obige Video positiv und herzerwärmend. Der Mann rollt jedoch auf Strassen, die für Autos gedacht sind, was sehr gefährlich ist. Wie in dieser Studie erwähnt, werden die Bürgersteige auf den Philippinen nicht gut instand gehalten und sind überhaupt nicht für Rollstühle geeignet. Die Studienteilnehmer Ted und Zaldy gaben an, dass sie sich nicht sicher fühlen, weil sie eine Strasse mit anderen Fahrzeugen teilen müssen. Jeffrey, ein weiterer Studienteilnehmer, berichtete: «Ich wollte die Strasse überqueren. Als ich in der Mitte der Strasse war, schaltete die Ampel plötzlich auf Grün. Ein Auto fuhr mich an und zerbrach meinen Rollstuhl.»
Ein weiteres Problem für Menschen im Rollstuhl sind Naturkatastrophen, die auf den Philippinen recht häufig vorkommen. Manchmal können sie nicht einmal ihre Häuser ohne Hilfe verlassen, wie im Fall von Bacita De La Rosa. Während eines Taifuns wurde sie bei einer Überschwemmung allein im Haus zurückgelassen und konnte nur warten, bis das Wasser zurückging, und hoffen, dass sie nicht ertrank. «Alles, was ich tun konnte, war beten», sagte sie.
Unwissenheit und Feindseligkeit der Gesellschaft machen das Leben behinderter Menschen noch schwieriger
Ein weiterer Faktor, der die Lebensqualität von Menschen mit Querschnittlähmung beeinträchtigt, sind die Einstellungen und Vorurteile der philippinischen Gesellschaft, wie die oben erwähnte Studie zeigt. Die Leute denken oft, Menschen mit Behinderung seien Bettler oder lästig; sie werden als inkompetent oder unproduktiv angesehen und als von ihrer Familie abhängig. Es besteht der Glaube, dass sie nichts für sich selbst tun können. Studienteilnehmer Jorge erzählte:
«Als ich auf dem Flur wartete, wurde ich aufgefordert zu gehen. Ich erwiderte: ‹Warum bitten Sie mich zu gehen? Ich habe eine Besprechung.› Die Mentalität des Personals war, dass alle Menschen, die dorthin gehen, betteln wollen: ‹Sie sind nur hier, um um Hilfe zu bitten› ... Das Personal bestand darauf, dass ich den Korridor blockiere und ein Ärgernis sei.»
Auch wenn Personen eine positive Einstellung gegenüber Menschen mit Behinderungen haben, bleibt das mangelnde öffentliche Bewusstsein für ihre Bedürfnisse ein Problem. Jobelle sagt, es sei gut, dass die Philippiner immer ‹einen Weg finden›, egal was passiert. Auch wenn die Umgebung nicht zugänglich ist, versuchen sie zu helfen. Dies kann sich jedoch auch negativ auswirken.
Wie in dieser Studie berichtet, beschloss die Teilnehmerin Jeana, in den Urlaub zu fahren; ihre Hoffnung war, so nach dem Verlust ihrer Mutter ihre Stimmung zu heben. Der Ort hatte keine Rampen, und das Personal versuchte ihr entgegenzukommen, indem es ihr über die Treppe half – doch das gab ihr das Gefühl, keine Kontrolle über ihren Urlaub zu haben. «Wie kann ich mich entspannt oder in Frieden fühlen, wenn ich daran denke, dass Leute auf mich warten? Vor allem, weil es schon nach Mitternacht ist. Was wäre, wenn ich um 1 Uhr nachts nach oben gehen wollte?», sagte sie.
Sie hatte das Gefühl, dass sie anderen zur Last fiel. Sie konnte die Dinge, die sie tun wollte, nicht dann tun, wann sie wollte. Sie konnte nicht mit ihrem Mann allein sein, wenn sie in das Resort zurückkehrte.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass die ‹Finde einen Weg›-Einstellung zu einem Problem werden kann, ist auf dem folgenden Bild zu sehen. Ein behinderter Mann musste sich mühsam die Treppe eines Bahnhofs in der Hauptstadt Manila hinaufquälen, während Wachleute seinen Rollstuhl einige Stufen vor ihm hertrugen. Sie mögen glauben, dass sie ihm geholfen haben, aber die Person hatte es schwer.
Was lässt sich dagegen tun?
Der fehlende Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln ist eine grosse Barriere, das aus Sicht von Jobelle geändert werden muss. Viele Menschen mit Behinderungen können kein Geld für die Miete oder den Kauf eines Autos ausgeben. Einige können keinen Job bekommen, und diejenigen, die eine haben, verdienen oft nicht viel Geld. Daher wären öffentliche Verkehrsmittel für sie essentiell, um zu ihrem Arbeitsplatz, zur Kirche und zu anderen öffentlichen Orten zu gelangen.
Ein weiteres grosses Problem ist der Zugang zu Gebäuden, z. B. Schulen. Wie aus der oben erwähnten Studie hervorgeht, sind die Schulen auf den Philippinen nicht behindertengerecht ausgestattet, so dass es für Betroffene schwierig ist, eine Ausbildung zu erhalten.
Am wichtigsten ist es laut Jobelle, die Öffentlichkeit für die Bedürfnisse von Menschen mit Querschnittlähmung und anderen Behinderungen zu sensibilisieren. Sie glaubt, dass dies einen grossen Einfluss auf deren Leben haben wird, denn die Philippiner sind sehr freundliche Menschen, die helfen wollen, aber nicht können, weil sie nicht wissen wie.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Leben von Menschen mit Querschnittlähmung auf den Philippinen ganz anders ist als in der Schweiz. Die strukturellen Barrieren, mit denen sie konfrontiert sind, sind viel schwerwiegender – doch ihre Kultur, die Familie und Gastfreundschaft fördert, hat ihnen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Stärke gegeben.
Was denkt Ihr über die Situation von Menschen mit Querschnittlähmung auf den Philippinen? Wir freuen uns auf Eure Meinung.