Wer so fragt, erwägt immer auch, ob er schuldig ist – ob ihn die Götter bestrafen
- 3 Minuten Lesezeit
- 04. Oktober 2022
- fritz
Wer so fragt, erwägt immer auch, ob er schuldig ist – ob ihn die Götter bestrafen
Warum es gerade sie trifft, müssten sich eigentlich jene fragen, die es schon von der Wiege auf besser hatten: Gesund geboren in sicherer Umgebung, immer gut betreut und schon von klein auf anregend gefördert, und das alles in einem sozialen Umfeld, das stabil ist und zudem finanziell gut abgesichert. Solche Glückspilze grübeln allerdings wenig. Die meisten von ihnen erachten es als selbstverständlich, dass sie privilegiert sind.
Missgeschicke regen zum Denken an
Die Menschen beginnen erst nachzudenken, wenn etwas schiefläuft. Das beginnt schon im Alltag: Für das leckere Gericht, das ich zubereiten will, braucht es noch das verbliebene Ei im Kühlschrank. Schwungvoll öffne ich ihn, greife schusslig zum Ei, und es rutscht mir aus der Hand. Scheisse!
Wie konnte das geschehen, wer will mir böse, was habe ich falsch gemacht? Womit habe ich mir das verdient? Das kommt nie wieder vor! Denen, die mir solches zufügen, zeige ich es, schnaube ich und gehe in den Garten.
Dort gaffe ich Löcher in die Luft, beruhige mich allmählich. Eine Viertelstunde später dämmert mir, wie ich diese Speise mit Gewürzen und einem Schuss Sherry besser hinkriege als mit einem Ei.
So wie wir im Alltag schliesslich anders vorgehen, wenn etwas missraten ist, passen wir uns schlussendlich auch schicksalhaften Gegebenheiten an – seien es missliche soziale Verhältnisse, traumatische Erlebnisse, Pechsträhnen, Krankheiten oder Behinderungen.
Das gelingt uns aber erst, nachdem wir eingesehen haben, dass uns nichts anderes übrigbleibt. Die Bedingungen sind gesetzt, verändern können wir sie nicht. Wir müssen uns ihnen stellen.
Wir stellen uns die Schuldfrage – egal ob wir Täter oder Opfer sind
Auf dem Weg zu dieser Einsicht durchlaufen wir verschiedene Etappen. Eine prominente, die wohl alle Menschen kennen, ist mit «Schuld» betitelt. Sind wir schuldig und bestrafen uns die Götter – wie zu biblischen Zeiten Hiob, dessen ‹Hiobsbotschaften› zum Begriff geworden sind? Wenn wir klagen «Warum gerade ich?», lassen wir uns vom Gedanken leiten, ob wir – womöglich zu Recht – Sühne zu leisten haben.
Als Verunfallte müssen wir uns, je nach Hergang, vorwerfen lassen, unser Unglück selbst verursacht zu haben. Als Erkrankte müssen wir uns anhören, es ginge uns besser, hätten wir nicht so viel geraucht und gesoffen. Das bedeutet, wir müssen uns eingestehen, ‹Täter› zu sein.
Ihnen gegenüber stehen die ‹Opfer›, denen es kaum besser geht. Dass andere, nicht sie selbst, sie versehrt und ins Elend gestürzt haben, tröstet nicht wirklich – ganz im Gegenteil: Nicht selten kommen sie mit ihrem Schicksal schwerer zurecht, gerade weil sie keinerlei Verantwortung trifft. Die Frage nach dem Warum nagt umso mehr an ihnen.
Je nach Unglücksursache reagieren wir anders
Ob wir nun Opfer oder Täter sind – die Frage «Warum gerade ich?» bleibt unbeantwortet, denn bei fast jedem Missgeschick gilt: Viele andere sind ungeschoren davongekommen, obschon sie sehr Ähnliches erlebt haben.
Diesen Gedanken greift die aktuelle Werbekampagne der Schweizer Paraplegiker-Stiftung auf. Der Slogan «Ich sitze unschuldig» ist im Sinne von «unverschuldet» zu verstehen. «Umstände, die niemand voraussehen kann», führen zu einer Querschnittlähmung, erläutert die Stiftung.
Den Weg, veränderte Lebensbedingungen hinzunehmen, gehen Opfer und Täter allerdings unterschiedlich. Getrieben von einem gewissen Schuldgefühl, handeln wir als Täter forscher und zielbewusster. In der Opferrolle erwarten wir dagegen, uns verwöhnen lassen zu dürfen, bevor wir uns selbst einbringen.
Das behaupte ich in meinem 2019 erschienen Buch «Ansonsten munter – Einsichten eines Rollstuhlfahrers», das auch hier auf unserer Plattform vorgestellt wurde. Es zeigt verschiedene Verläufe auf, darunter meinen eigenen.
Zur Frage «Warum gerade ich?» gibt es ein gleichnamiges Buch von Erika Schuchardt zur Krisenbewältigung im weitesten Sinne. Ferner gibt es das wissenschaftliche Buch «Klinische Psychologie bei Querschnittlähmung» sowie das populärwissenschaftliche «Warum das Leben weitergeht». An ihm habe ich selbst mitgewirkt, zusammen mit Peter Lude und Mechtild Willi Studer, ehemalige Leiterin Pflegedienst am SPZ Nottwil.