Die Konzeptualisierung des Reagiro-Rollstuhls
- 4 Minuten Lesezeit
- 30. Oktober 2018
- kitwan
Die Konzeptualisierung des Reagiro-Rollstuhls
Was macht ein Designer?
„Ich google alle zwei Monate meinen Namen und mein Projekt, um zu sehen, wo darüber berichtet wird.“
Ich bin mir nicht sicher, ob jeder Designer sich regelmässig selber googelt – doch auf diesem Weg lernte die Community Reto Togni (@retogni) kennen. Er hat den Reagiro entwickelt, einen manuellen Rollstuhl mit Steuerung über die Rückenlehne, wodurch der Benutzer für die Navigation nur eine Hand braucht.
Zu Beginn dieses Jahres teilte unsere Moderatorin Julia ihre Entdeckung des Reagiro auf dem Community-Blog. Drei Monate später las Reto den Blogbeitrag, nachdem er sich selbst auf Google gesucht hatte, und registrierte sich sogar als Nutzer auf der Community, um kommentieren zu können.
Im Anschluss lud das Community-Team Reto im August zu einem Besuch des Schweizer Paraplegiker-Zentrums nach Nottwil ein. Dort hatten wir vertiefte Diskussionen über den Reagiro sowie über Behinderung und Design.
Warum einen Rollstuhl entwerfen?
Letztes Jahr schloss Reto sein Studium mit einem doppelten Mastertitel (MSc/MA) in Innovation, Design und Engineering ab. Während des zweiten Jahres seines Masterstudiums musste er, wie alle anderen Studenten, ein individuelles Designprojekt durchführen. Das Ergebnis seines Projekts war die Entwicklung des manuellen Rollstuhls Reagiro, der sich über die Rückenlehne steuern lässt. Aber warum entschied sich Reto ausgerechnet dazu, einen Rollstuhl zu entwickeln?
Von Cybathlon inspiriert, entschied sich Reto schon ganz am Anfang seines Projekts für das Thema „Behinderung und Technologie“. Obwohl er zuerst keine Ahnung hatte, was genau er eigentlich designen wollte, war ihm eines klar: Er wollte wissen, was die Leute gerne auf dem Markt sehen würden, und vor allem, was sie gerne benutzen würden.
Um weitere Ideen zu sammeln, begann Reto mit Menschen über Behinderung und Technologie zu sprechen – nicht nur über die technischen Merkmale von Hilfsmitteln, sondern auch über ihren emotionalen Wert für die Benutzer. Dieser emotionale Wert, der von Ingenieuren oft ausser Acht gelassen wird, ist für Reto wichtig und hat ihn zur Entwicklung des Reagiro inspiriert.
Wie ein Skateboard
Reto erinnerte sich an eine Unterhaltung mit einem guten Freund – einem Rollstuhlfahrer. Der Freund hatte beobachtet, wie geschmeidig sich Skateboarder selbst auf unebenem Gelände bewegen können. Er fragte sich, wie man wohl einen Rollstuhl konzipieren könnte, der wie ein Skateboard funktioniert? Dieser Kommentar war einer der klarsten Hinweise für Reto, was Benutzer genau von ihrem Hilfsmittel erwarten. Ausserdem haben diverse Kommentare bezüglich Spass beim Fahren oder sich zurücklehnen können zur Konzeptualisierung des Reagiro beigetragen.
Nutzerorientierter Designer
Retos Designprojekt dauerte sechs Monate lang. Oft arbeitete er mehr als zwölf Stunden am Tag und sechs bis sieben Tage die Woche. In den ersten drei Monaten war er erschöpft und deprimiert. Einerseits brauchte er eine praktikable technische Lösung für seinen Rollstuhl, damit ihn die Benutzer mit nur einer Hand steuern können. Andererseits wollte er eine positive Beziehung zwischen seinem Produkt und den Benutzern herstellen.
Während seines Besuchs teilte Reto mit uns fortwährend seine Gedanken und Ideen über Rollstühle und über den Reagiro. Man kann seine Leidenschaft und Entschlossenheit, ein nutzerorientiertes Hilfsmittel zu entwickeln, förmlich spüren.
Für Reto verraten Rollstühle und andere Hilfsmittel viel über die Gesellschaft und die Menschen. Er denkt, dass Hilfsmittel für viele Menschen sehr persönliche Gegenstände sind. Er fügte hinzu, dass
„der Rollstuhl das grossartigste Symbol für Mobilität und Unabhängigkeit ist, aber es ist auch ein Symbol für Behinderung“.
Reto sprach auch über die vielfältigen Dimensionen von Rollstühlen. Gesellschaftlich wird der Rollstuhl gewöhnlich als allgemeines Symbol für „etwas nicht tun können“ verwendet, z. B. für Behindertenparkplätze. Medizinisch gesehen ist der Rollstuhl ein Hilfsmittel, der von Klinikern und Ingenieuren vielen Funktionstests unterzogen wird. Und schliesslich sind Rollstühle ein wesentlicher Bestandteil im Leben vieler Benutzer und sind zudem massgeschneidert, so dass sie zu sehr persönlichen Objekten werden können.
„Auf jeden Fall gibt es einen gesellschaftlichen Aspekt. Es gibt einen persönlichen Aspekt. Es gibt einen medizinischen Aspekt. Und sie alle beeinflussen sich auch gegenseitig – das macht den Rollstuhl interessant.“
Reto erläuterte, dass es wichtig sei, als Designer nicht zu egoistisch zu sein. Viele Designer würden eine Sache hauptsächlich für sich selbst entwerfen, und dies sei für Designer schon fast normal. Doch es sei vielleicht nicht die beste Art zu designen.
„Für mich ist ein Designprojekt dann am interessantesten, wenn es um ein bestimmtes gesellschaftliches Phänomen geht und nicht um den Geschmack einer einzelnen Person.“
Deshalb nimmt Reto sehr ernst, was die Menschen denken und was sie wollen. Dies ist das Grundprinzip von nutzerorientiertem Design.
Der Prototyp des Reagiro
Nach vielen Diskussionen und informellen Testfahrten mit dem Rollstuhl entwickelte und baute Reto den Prototyp des Reagiro mit Mehrfachkomponenten einschliesslich 3D-Drucken. Auf diese Weise kann er den Rollstuhl grösstenteils zu niedrigen Herstellungskosten massanfertigen.
Reto brachte den Prototyp bei seinem Besuch in Nottwil mit. Auf unserem Weg zu einer Führung durch die Orthotec probierten Johannes und ich den Rollstuhl aus. In der Orthotec testete ihn auch Markus Anderhub, unser Orthotec-Führer mit inkompletter Paraplegie (L2-3). Hier eine kurze Vorschau unserer Erlebnisse.
Wie fühlt es sich an, im Reagiro zu fahren? Wie geht es mit dem Reagiro-Projekt weiter? Mehr dazu erfahrt Ihr in meinem nächsten Blogbeitrag über den zweiten Teil des Besuchs und weitere Gespräche mit Reto.
Welches Hilfsmittel hättet Ihr gerne oder würdet Ihr in der Zukunft gerne auf dem Markt sehen? Teilt es uns mit!
[Übersetzung des originalen englischen Beitrags]