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Porträts & Geschichten

«Lieben, leben, lachen!»

Kinder im Rollstuhl prägen Geschwister und Eltern. Familie Anesini-Walliser erzählt von ihren Erfahrungen

Kinder im Rollstuhl prägen Geschwister und Eltern. Familie Anesini-Walliser erzählt von ihren Erfahrungen

Das Mädchen hat schnell gemerkt, dass etwas an ihr anders ist: «Im Kindergarten haben alle ihren eigenen Stuhl bekommen, mit einem Tierlikleber drauf. Nur meiner hatte Rollen», erzählt Siri Anesini. Diese Erinnerungen empfindet die heute 30-Jährige als nichts Schlimmes; für sie war das ganz normal. Und der Rollstuhl, den sie damals erhielt, erwies sich als Segen. «Nicht immer getragen werden zu müssen oder zu kriechen – das hat schon einiges verändert.»

Siri ist mit einem offenen Rücken zur Welt gekommen, einer Spina bifida. Ihre Eltern sind die ehemalige Skirennfahrerin und mehrfache Olympia-Medaillengewinnerin Maria Walliser und ihr Mann Guido Anesini. Nach Siris Geburt brauchten sie fast fünf Jahre, bis sie für ein weiteres Kind bereit waren. Die zweite Schwangerschaft war begleitet von Ängsten um das Baby; zur gleichen Zeit musste Siri oft ins Spital für Operationen an Hüften und Füssen. «Der Spagat war für uns riesig», erzählt Mama Maria.

Noemi vervollständigte die Familie im Sommer 1996. Seither gehört die Aufmerksamkeit der Eltern beiden Mädchen, Liebe und Fürsorge wurden verteilt und verdoppelt. «Ein gutes Umfeld mit Eltern und Schwiegereltern, Tanten und Paten hat uns die nötige Kraft dazu gegeben», sind sich Maria und Guido einig. Sie wollten keine Unterschiede machen, sondern mit ihren Töchtern gemeinsame Erlebnisse schaffen. «Und dank des glücklichen Umstands, dass ich als Mama immer zu Hause sein konnte, durften die Mädchen sich auch getrennt voneinander entwickeln und ihre Hobbies ausleben.» So war und ist Siri ein absoluter Bücherwurm, Noemi dagegen ein Multitalent im Sport.

Die Familie Anesini-Walliser posiert für ein Gruppenbild. Siri sitzt vorne im Rollstuhl, die anderen stehen um sie herum.

Eine starke Familienbande verbindet das Quartett. Sie liessen sich durch Siris Rollstuhl nie behindern, sondern haben Hürden gemeinsam überwunden.

Anders sein, aber dennoch vertraut

Dass ihre grosse Schwester einen eigenen Tagesrhythmus hatte und die Treppe im Haus anders bewältigte – sich von Stufe zu Stufe hangelte – war Noemi natürlich nicht entgangen. «Und es gab Situationen, in denen Siri nicht so schnell unterwegs war wie ich», erzählt sie. Oft ging sie von klein auf mit in die Physiotherapie oder ins Rollstuhltraining und hat so gesehen und erfahren, wo die Unterschiede liegen.

Meistens erklärte Siri den anderen selber, wer sie ist und was sie hat, sagt Mama Maria. «Und Noemi lernte rasch, ihre Schwester zu unterstützen und den Rollstuhl als ganz natürlich anzusehen.»

«Ich spürte bereits als Teenager, dass die Kindheit mit meiner Schwester mich Rücksicht und Fürsorge gelehrt hat. Ich konnte mir dadurch wohl viele soziale Kompetenzen aneignen.»

Noemi Anesini

Die Grössere wiederum fand es toll, nur auf den Hinterrädern zu fahren, zu «kippeln» und dabei das Gleichgewicht zu halten. Neid auf die Kleine, die gehen kann? «Das gab's nur ganz, ganz selten. Vielleicht, wenn Noemi viel einfacher irgendwo hinkam, über Stock und Stein gerannt ist.» Aber, betont Siri, das waren kurze Momente, nichts Nachhaltiges. «Denn mir wurde so vieles ermöglicht. Mum hat uns wahnsinnig viel geboten, wir durften soviel erleben. ‹Das geht nicht›, gab's nicht.»

Familie Anesini-Walliser macht ein Selfie und schaut dabei fröhlich in die Kamera.

Gemeinsame Erlebnisse zu schaffen, war den Eltern immer wichtig: Guido, Siri (vorne), Noemi und Maria Anesini-Walliser.

Langsamkeit kann im Alltag nerven

Je älter die Mädchen wurden, desto mehr entwickelten sie ihre individuellen Leben. Siri wechselte ans Gymnasium und Internat nach Appenzell. Somit hatte Noemi unter der Woche das Zuhause in Malans GR und die Aufmerksamkeit der Eltern für sich. Sie habe ihren Bewegungsdrang voll ausleben können, erzählt Maria Anesini-Walliser. Denn eines sei nicht zu unterschätzen: «Die Langsamkeit durch eine Mobilitätseinschränkung eines Familienmitglieds ist nie einfach zu händeln.» Da helfen nur Flexibilität und Einfühlungsvermögen.

«Ein gern und schnell gesagtes ‹Ja ja, kommt schon alles gut› existiert in unserem Alltag praktisch nicht. Diese Unbeschwertheit fehlt.»

Maria Anesini-Walliser

Für einen jungen Menschen mit Beeinträchtigung ist die Herausforderung gross, Freundinnen und Freunde zu finden, die ihre eigenen Interessen oft in den Hintergrund stellen müssen. Und ein jüngeres Geschwister kann einen übergrossen Gerechtigkeitssinn entwickeln. «Auch deshalb wird man manchmal der Unbeschwertheit nicht gerecht», so Mama Maria. Das kann auch mal zu Konflikten in der Familie führen – erst recht, wenn vier so starke Charaktere aufeinandertreffen.

«Und nicht zu unterschätzen war in unserem Familienkonstrukt die Tatsache, dass Mama des Öfteren zu allem möglichem interviewt wurde und als Präsidentin der Stiftung Folsäure eine soziale Funktion in der Präventionsarbeit inne hat.» Maria Anesini-Walliser macht seit dem Jahr 2000 das Lebensvitamin Folsäure im ganzen Land bekannt (siehe Box unten).

Maria Anesini-Walliser hockt vor Siri und ihrem Rollstuhl, die beiden Frauen lachen herzhaft.

Loslassen können und doch immer füreinander da sein. Maria und Siri sind beide starke Charaktere. (Quelle: Hans Schürmann, Zürich)

Grenzen gemeinsam überwinden

Das Quartett hat viel gemeinsam unternommen, Ferien am Meer, Ausflüge in der Natur – das gab Ansporn und Energie. «Ich wurde einfach immer mitgenommen. Das hat mich enorm geprägt», erzählt Siri. Nicht Grenzen aufzeigen, sondern gemeinsam überwinden. Nur die fehlende Barrierefreiheit, auch in der fortschrittlichen Schweiz, «hat uns oft Nerven gekostet», ergänzt Maria Anesini-Walliser.

Siri ist heute Juristin und lebt mit ihrem Mann, zwei Katern und einem Hund in Malans. Sie sei unheimlich stolz auf ihre kleine Schwester: «Ich würde für sie bis ans andere Ende der Welt reisen, wenn sie nach mir fragt.»

Noemi hat einen Bachelor in Kommunikation und Sport, macht gerade ihren Master in «Tourism and Change», ist Skilehrerin in Davos und engagiert sich bei Swiss Snowsports, dem Dachverband der Schweizer Skischulen und -lehrer. Sie freut sich über ihr herzliches Schwesternverhältnis zu Siri, und «dass im Alter von 25 und 30 auch alle kleinen Ärgereien verflogen sind und coole Diskussionen stattfinden».

«Kämpferisch bleiben! Den Mut nie verlieren! Leben, Lieben, Lachen!»

Der Tipp von Maria und Guido Anesini-Walliser für alle betroffenen Familien

Aufklären und sensibilisieren

Die Stiftung Folsäure Schweiz wurde im Jahr 2000 gegründet, um die «Folsäure-Lücke» zu schliessen und Geburtsfehler wie Spina bifida zu reduzieren. Wie wichtig eine gute Versorgung mit dem Vitamin ist, zeigt die Tatsache, dass in fast 90 Ländern auf staatliche Verordnung das Mehl mit Folsäure angereichert wird. Die Schweiz gehört nicht dazu, doch dank der Sensibilisierung durch die Stiftung kennen heute vier von fünf Menschen hierzulande die Folsäure. Weiter organisieren die Verantwortlichen Fachvorträge und unterstützen Spina-bifida-Betroffene.

Hast Du ein Familienmitglied im Rollstuhl? Erzähl uns von Deinen Erfahrungen.

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