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Porträts & Geschichten

Rapper Freeze – Teil 1: Mein neues Ich

Philippe Fries aka Freeze ist aufgrund seiner MS-Erkrankung von einem Moment auf den anderen im Rollstuhl. Schreiben und rappen helfen ihm zurück ins Leben

Philippe Fries aka Freeze ist aufgrund seiner MS-Erkrankung von einem Moment auf den anderen im Rollstuhl. Schreiben und rappen helfen ihm zurück ins Leben

2018 brach Philippe Fries – und sein Leben – zusammen. Querschnittgelähmt. Die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose befiel das Rückenmark des damals 39-Jährigen. Trauer, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit – alles schien wie «eingefroren». Der Rapper mit Künstlername Freeze (Zufall?) konfrontierte sich mit existenziellen Fragen: «Will ich weiterleben? Wenn ja, wie?»

Sein kämpferischer Entscheid: Er will weder sein Leben noch seine Träume aufgeben. Lautstark, rhythmisch und mit einer beeindruckend-intelligenten Tiefgründigkeit rappt sich Freeze zurück ins Leben und in die Herzen seiner Zuhörer. Dabei will er sich nicht auf «Rollstuhl-Rapper» reduzieren lassen. Seine Botschaften bleiben gesellschaftskritisch, mit einer scharfen Prise an existenziellen Fragen und dem Thema Inklusion. Erlebtes verarbeitet er nicht nur in Songs, sondern auch in seinem Blog. Wir haben euch unsere Lieblingsstellen in einem «Medley» zusammengestellt – hier der erste Teil.

Mein neues Ich bzw. mein aktuelles Ich

Wie es mir dabei geht, weiss ich immer noch nicht genau. Irgendwie immer «scheisse» und «super» gleichzeitig. Irgendwo zwischen Hoffen und Akzeptieren, zwischen Fliegen und Fallen. Gibt in der Schnittmenge dann «irgendwie ok». Wohin das führt, weiss ich nicht. Will ich wahrscheinlich auch nicht. Ich versuche, den Fokus auf das zu legen, was ich kann, nicht auf das, was ich verloren habe. Klingt einfach, ist es aber nicht. Und doch funktioniert es – irgendwie.

Phil Fries, bekannt als Rapper Freeze, sitzt im Rollstuhl. Er ist schwarz gekleidet, schaut mit leicht geneigtem Kopf in die Kamera, seine Hände gefaltet. Er befindet sich auf einem Holzsteg, im Hintergrund helles Schilf.

Rapper Phil Fries aka Freeze: «Das ist mein neues Ich – beziehungsweise mein aktuelles Ich.»

«Voll geil dein Gefährt!»

Auf dem Schwarz-Weiss-Foto sind vier junge Männer zu sehen: links aussen mit Krücken in der Hand, daneben sitzt Phil und lacht, rechts neben ihm ein Jugendlicher mit Rastas und Sonnenbrille, rechts aussen Phils Kollege.

Der junge Mann in der Mitte rechts ist vorne auf Phils Swiss-Trac gestiegen.

Der junge Mann in der Mitte ist leicht angetrunken vorne auf meinen Swiss-Trac gehüpft und meinte so: «Voll geil dein Gefährt, nimm mich mit, fahr mich irgendwo hin!» Ich so: «Vollidiot, vonwegen geiles Gefährt, weisst du, wie gerne ich laufen würde?» Doch er wollte mitfahren und weigere sich, mich anders zu behandeln, nur weil ich im Rollstuhl sitze. Er musste dann trotzdem absteigen, aber für die Begründung hat er meinen Respekt!

Song «Insle»: Spiegel und Denkanstoss

In den letzten Jahren ist «fremd» vermehrt Synonym für «schlecht und böse» geworden. Etwas, das Ängste auslöst und uns Unbehagen bereitet, uns bedroht. Dass «fremd» auch «lehrreich, spannend und bereichernd» sein kann, wird leider unterschlagen.

«Ich habe Kategorien wie Glaube, Herkunft, Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder Geschlecht als Grundlage zur Beurteilung von Menschen nie verstanden.»

Rapper Phil Fries aka Freeze

Für mich gibt es nur zwei Kategorien: Herzensmensch oder Arschgeige – vielleicht noch 2-3 Stufen dazwischen. Das finde ich aber nur heraus, wenn ich mich mit meinem Gegenüber befasse, ihm oder ihr in die Augen schaue und dann auf mein Gefühl höre.

Raus aus dem Hamsterrad

Fast mein ganzes früheres Leben war ich ein Getriebener. Immer gegen den Strom schwimmen. Um «Himmelsgottswillen» nie normal sein oder «bünzlig» werden.

Ironie: Mein grösster Erfolg im letzten Jahr war das Erreichen von Normalität. Aus dem Ausnahmezustand ein selbstständiges Leben machen. Mit der Familie in den Urlaub fahren, Konzerte besuchen, Fussballspiele im Stadion schauen, im Job wieder Fuss fassen, Freunde einladen, Gastgeber sein und ohne fremde Hilfe den Alltag bewältigen.

Mein Fazit: Wenn man es schafft, dabei Dankbarkeit zu empfinden, steht dem Glück nichts mehr im Wege. Denn sie ist keine Selbstverständlichkeit, die Normalität.

«Das Leben gewinnt eine gewisse Tiefe.»

Philippe Fries aka Freeze

Philippe Fries ist von schräg hinten zu sehen, während er über einen bewölkten See blickt.

Seit der Querschnittlähmung ist Phil Fries dankbarer für Momente wie diesen.

Von Sprache und Barrieren

Als sprachverliebter Mensch und sprachfixierter Rapper gibt es im Rollstuhl nicht nur im richtigen Leben immer mal wieder Barrieren. Auch die deutsche Sprache und ihre Redewendungen können einen zur Verzweiflung bringen. Ein paar Beispiele gefällig?

Meist beginnt’s schon bei der Begrüssung: «Wie geht’s, wie steht’s?» oder «Wie läuft’s?».

Auf der Post regen sich die einen oder anderen fürchterlich auf: «Gottverdammi, jedes Mal das huere Astoh!». Es trifft mich wie ein Blitz: «Scheisse, hier muss ich ja anstehen!»

Richtig schlimm wird’s als Fussballfan im Stadion. Deine Mannschaft spielt das Spiel ihres Lebens und es wird gesungen: «Steht auf, wenn ihr Luzerner seid, steht auf ...» Ich zurück: «Ich würd jo wenn i chönnt ihr Affe!» Noch mühsamer wird’s, wenn sie den Gegner beleidigen wollen: «Wer ned gumpet isch en …»

Okay, es hat auch Vorteile: Ich trete zum Beispiel nur noch sehr selten in einen Fettnapf. Ich bin auch sehr viel ausgeglichener, weil ich morgens praktisch nie mehr mit dem falschen Bein aufstehe. Sie können mir zwar noch auf die Füsse treten, aber es macht mir nicht mehr weh.

Alles Blödsinn? Mag sein, aber ich steh dazu. Scheisse jetzt fang ich schon selbst an. «Isch doch zum devo seckle!» Die lieben Sprachbarrieren

Grenzen und Möglichkeiten

Warum tut man die Dinge, die man tut? Eine Frage mit unendlich vielen Antworten. Motivation hat viele Quellen. Der Wunsch, Grenzen zu sprengen, ist eine davon – seine Möglichkeiten auszuloten eine andere.

Was wünscht man sich als erfolgsorientierter Musiker? Viele Konzerte spielen, ausverkaufte Hallen, ein Nummer-1-Album, Medienpräsenz usw. Diese Dinge sind für mich keine Motivation mehr, da ich sie nicht mehr schaffen kann. Trotzdem braucht es Ziele, um Dinge voranzutreiben.

Meine grösste Motivation fürs Musikmachen ist zurzeit die Frage: «Was kann ich eigentlich alles?» So ist die Idee für die Akustikversion des Songs «Insle» entstanden. Ich konnte meine Grenzen und Möglichkeiten testen und viel über Songwriting lernen. Es geht nicht nur darum, wie man die Geschichte schreibt, sondern auch, wie man sie erzählt – oder eben singt.

Zwei Jahre nach dem persönlichen «Lockdown»

Komisch. Irgendwie hat sich eine Art Normalität eingeschlichen. Die Tiefs sind selten geworden. Aber auch die Hochs sind nicht nachhaltig. Zu gross sind die täglichen Beschwerden. Zu regelmässig holen mich die gesundheitlichen Probleme wieder auf den Boden zurück.

Ich bin seit zwei Jahren stabil ohne weitere Schübe. Das ist gut! Ist das gut? Habe ich mir nicht erhofft, dass sich mein Körper mehr erholt und ich ein Teil meiner Funktionen wieder zurückerhalte? Darf ich weiter hoffen? Soll ich weiter hoffen? Muss ich akzeptieren? Bleibt es stabil? Wird es schlechter? Wird es doch noch besser? Quo Vadis?

Fokus auf die grossartigen Dinge

Ich tendiere dazu, am Jahresende nachdenklich zu werden und mit meiner Situation zu hadern. Dann hilft es mir, wenn ich schreibe und meine Gedanken teile. Nach dem Pandemiejahr fühlte es sich anders an: Ich hatte absolut null Bock auf «Jahresendmimimi» und semidepressive Selbstreflexionen. Deshalb habe ich eine Liste mit 10 Dingen erstellt, die absolut grossartig waren im 2020.

Ein Punkt auf der Liste: Ich habe mich verlobt. Dass mir das als Heiratsskeptiker mal passieren würde, darauf hätte ich nicht gewettet. Aber wenn man acht Jahre an der Seite des wundervollsten Menschen auf der Erde verbringen darf, kann man seine Prinzipien auch mal über Bord werfen. Eigentlich wollte ich zuerst wieder aus dem Rollstuhl kommen, damit ich mich für den Antrag auch anständig hinknien kann. Leider klappte es nicht und trotzdem ist es grossartig.

Gespannt auf die anderen neun Highlights?

Im zweiten Teil unserer Blog-Serie rappt Freeze ein Liebeslied an die Intuition, erklärt, warum ihm Corona geholfen hat, und macht sich Gedanken darüber, ob er als behinderter Rapper eine grosse Klappe haben darf. Schaut wieder vorbei.

Wie habt ihr euch mit eurem «neuen Ich» arrangiert? Findet ihr ebenfalls positive Aspekte durch die unfall- oder krankheitsbedingte Situation?

Bewertung: 5 / 5

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