Im zweiten Teil unserer Blog-Serie rappt Freeze ein Liebeslied an die Intuition, erklärt, warum ihm Corona geholfen hat, und fragt sich, ob er als behinderter Rapper eine grosse Klappe haben darf
- 6 Minuten Lesezeit
- 16. Februar 2023
- Anita S.
Im zweiten Teil unserer Blog-Serie rappt Freeze ein Liebeslied an die Intuition, erklärt, warum ihm Corona geholfen hat, und fragt sich, ob er als behinderter Rapper eine grosse Klappe haben darf
2018 brach Philippe Fries – und sein Leben – zusammen. Querschnittgelähmt. Die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose befiel das Rückenmark des damals 39-Jährigen. Trauer, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit – alles schien wie «eingefroren». Der Rapper mit Künstlername Freeze (Zufall?) konfrontierte sich mit existenziellen Fragen: «Will ich weiterleben? Wenn ja, wie?»
Sein kämpferischer Entscheid: Er will weder sein Leben noch seine Träume aufgeben. Lautstark, rhythmisch und mit einer beeindruckend-intelligenten Tiefgründigkeit rappt sich Freeze zurück ins Leben und in die Herzen seiner Zuhörer. Dabei will er sich nicht auf «Rollstuhl-Rapper» reduzieren lassen. Seine Botschaften bleiben gesellschaftskritisch, mit einer scharfen Prise an existenziellen Fragen und dem Thema Inklusion. Erlebtes verarbeitet er nicht nur in Songs, sondern auch in seinem Blog. Wir haben euch unsere Lieblingsstellen in einem «Medley» zusammengestellt – hier der zweite Teil (den ersten findet ihr unter diesem Link).
Ein Liebeslied an die Intuition
Man verliert sich im Leben, weiss vor lauter Stress, Ideen und Plänen nicht mehr, was oben und unten ist. Ich hatte immer das Gefühl, noch etwas mehr tun zu müssen. Bei aller Kacke, die meine neue Situation mit sich gebracht hat, gibt es mindestens eine sehr positive Entwicklung: Die Entschleunigung empfinde ich als extrem befreiend. Ich glaube, ich war im Leben noch nie so nahe bei mir und hatte so stark das Gefühl, das Richtige zu tun wie jetzt.
Genau darum geht’s im Lied «Kompass». Das Chaos hinter sich lassen, abhaken. «S'Navi kaputt, aber s'Gfühl isch stabil.» In unserer hoch technologisierten Welt braucht es eigentlich keine Hilfsmittel. Nur ein stabiles Gefühl und den Mut, darauf zu vertrauen; auf unseren inneren Kompass.
«Corona hilft mir!»
Ich möchte niemanden vor den Kopf stossen, der an Corona schwer erkrankt ist oder sogar Todesfälle in seinem Umfeld hatte. Mir ist auch bewusst, dass immer noch viele an den wirtschaftlichen Folgen leiden. Lasst mich kurz erklären …
Corona legte alles lahm. Durchatmen, überlegen, neue Wege suchen … und langsam hat die Pandemie unsere Gesellschaft verändert. Ich meine nicht Bagatellen wie Maskentragen und der exponentiell erhöhte Klopapiersicherheitsbestand. Ich spreche von der Digitalisierung, welche wie eine Sintflut über die Arbeitswelt gekommen ist. Home-Office heisst für mich, auch mal arbeiten können, wenn ich nicht 100 % fit bin. Dank Online-Meetings kann ich wieder Kundenprojekte betreuen, weil ich nicht vor Ort sein muss.
Für mich hat die erzwungene Digitalisierung viel mit barrierefreiem Zugang zum Arbeitsmarkt zu tun und bietet mir neue Perspektiven. Flexiblere Arbeitszeitmodelle lassen Beruf und Familie besser vereinen. Braucht es tatsächlich mehr Infrastruktur in Strassen und ÖV? Vielleicht liegt die Lösung in Home-Office und in dezentralen Co-Working Spaces. Wir müssen uns von festgefahrenen Denkmustern und vermeintlichen Realitäten lösen, damit neue Dinge in Bewegung kommen können. Wir brauchen Veränderung für eine gleichberechtigte und gerechte Welt, welche die Ressourcen des Planeten respektiert und jedem Menschen ein würdiges Leben ermöglicht.
Ihr dürft mich Träumer nennen; aber die Pandemie hat gezeigt, was alles möglich ist, wenn der notwendige Wille vorhanden ist und es die Situation erfordert. Jede Krise beinhaltet auch Chancen.
Mikrophon und Inklusion
Das Musikprojekt «OG Tapes» mit Steven Egal ist für mich eine Art Experiment. Das Thema Inklusion – gemäss Definition «das Miteinbezogensein; gleichberechtigte Teilhabe an etwas haben» – wird zur Metaebene. Wie weit sind wir mit der Inklusion und wie weit kann ich als Rapper im Rollstuhl gehen? Wird es akzeptiert, wenn ich als Behinderter eine grosse Klappe habe und mit Rollstuhl-Punchlines um die Ecke komme? Oder soll ich doch eher in der Rolle des tapferen Rollstuhlfahrers bleiben, der sein Schicksal und seine Krankheit heldenhaft erträgt?
Eine Gratwanderung. Für Veränderung muss man Bewusstsein schaffen. Das heisst, ich muss die Probleme benennen und mich als Behinderter zeigen, so wie jede andere Gruppe auch, die für Gleichberechtigung kämpft. Auf der anderen Seite habe ich Mühe damit, meine Krankheit und meine Behinderung zu stark in den Vordergrund zu stellen. Nicht, weil ich mich dafür schäme, sondern weil ich mich nicht darüber definieren will. Wenn ich Texte schreibe und diese aufnehme, bin ich nicht behindert. Ich möchte keine Spezialdisziplin als «Rollstuhl-Rapper», ich möchte den anderen Rappern auf Augenhöhe begegnen. Anerkennung oder Ablehnung erhalten, wie andere auch.
Wenn ich meine Geschichte erzähle, achte ich mittlerweile sehr genau darauf, wie sie erzählt wird. Ich könnte schon einiges bekannter sein, wenn ich alle Medienanfragen* angenommen hätte. Oft hätte ich aber erneut meine Krankheitsgeschichte erzählen sollen. Wenn ich antworte, dass ich jetzt vorwärts gehen möchte und lieber über Musik, meine Projekte oder eben Inklusion reden würde, reduziert sich das Interesse markant. Ich bleibe meinem Ziel treu: Inklusion.
«Wotts uf de Thron schaffe, doch ha müesse chere ey, ha bim Zuegang gmerkt, er isch leider nid barrierefrei.»
Rapper Phil Fries aka Freeze
Die Kraft von Hoffnung
An 10 Orten der Hoffnung beschreiben Menschen auf dem Gelände des Schweizer Paraplegiker-Zentrums in Nottwil ihren Weg zurück ins Leben. Beim Thema «Verankerung» durfte ich einen Betrag leisten. Der Anker steht am wunderschönen Seeplätzli. Für mich war es während der Reha ein Ort der Ruhe und Hoffnung. Es ist aber auch der Ort, wo schon mehrere Menschen ihr Leben beendeten. Dass ich einen Beitrag leisten kann, damit Menschen neue Hoffnung finden, berührt mich extrem.
Das Leben ist und bleibt ein Rätsel für mich. Eigentlich wünsche ich mir jeden Tag meine alte Gesundheit und meine alte körperliche Verfassung zurück. Ich habe aber auch erlebt, dass aus Schlimmem etwas Positives entstehen kann. Dass offenbar Dinge passieren müssen und am Ende auf seltsame Weise einen Sinn ergeben.
«Vo gheie und flüüge»
Das war der erste Song als Rollstuhlfahrer. Für mich ein persönliches Statement, weiterzumachen, die Challenge zu akzeptieren – und ein wichtiger Schritt zurück ins Leben. Rückblickend einer der wichtigsten Entscheide, die ich je getroffen habe. Dass der Song darüber hinaus andere Menschen inspiriert, macht mich sehr glücklich. Zum Fliegen kamen dadurch mehrere Spendenaktionen, neue Freundschaften und Plattformen in den Medien*.
«Jeder kennt den Moment in seinem Leben, in dem es darauf ankommt. … Keiner weiss, was uns auf zukommt … Aufgeben und verzweifeln kann ich später immer noch …»
Rapper Phil Fries aka Freeze verarbeitet im Song «Vo gheie und flüüge» seine MS-Erkrankung und Querschnittlähmung
*Hier ein Auszug von Medienberichten und Interviews:
- Interview mit Robin Rehmann, S.O.S. – Sick of Silence (SRF) / Video zum Interview
- Luzerner Zeitung: «Die Musik hilft mir sehr, wieder im Leben anzukommen»
- Pilatus Today: Wandern für guten Zweck: Gelähmter Rapper sammelt Geld
- Tele1: Rapper Phil Freeze immer noch am Geld sammeln
- Trechter, News für Sempachersee Leute
- Zentralplus: Luzerner Rapper hat sich im neuen Leben aufgerappelt
- Zentralplus: «Ich habe jetzt Kunden vis-à-vis, die nicht mal wissen, dass ich im Rollstuhl bin»
- Zentralplus: Phil Freeze und Henrik Belden sind reif für die «Insle»
- Zentralplus: Luzerner Rapper und Langstreckenläufer spannen zusammen – für den guten Zweck
Update 01.02.2024: Neuer Videoclip «Zäme i dem Boot» von Freeze und Sonyx
Tolle Neuigkeiten von Philippe aka Freeze: In Zusammenarbeit mit Mättu aka Sonyx hat er einen neuen Videoclip mit dem Titel «Zäme i dem Boot» veröffentlicht. Es ist Philippes erstes Musikvideo im Rollstuhl.
Philippe gibt zu, dass es eine Überwindung war, sich auf den Dreh einzulassen. Zweifel und Ausreden kamen auf, aber Mättu und seine Frau Daniela überzeugten Philippe mit ihrem Einfühlungsvermögen und ihrer Entschlossenheit während der Umsetzung.
«Zäme i dem Boot» ist ein beeindruckendes Werk mit wichtigen Botschaften. Schaut es euch an: