Der adaptive Sport entfacht das innere Feuer und bekämpft Vorurteile über Behinderung
- 4 Minuten Lesezeit
- 17. Juni 2021
- kitwan
Der adaptive Sport entfacht das innere Feuer und bekämpft Vorurteile über Behinderung
Boxen war schon immer ein Sport, der unterschiedliche Gefühle auslöst. Manche sind der Meinung, dass er wegen seiner Brutalität und des Hirntrauma-Risikos verboten werden sollte. Dennoch gehört er zu den beliebtesten Kampfsportarten der Welt.
In den vergangenen Jahren wurde Boxen auch unter Menschen mit Behinderungen, darunter Rollstuhlfahrer, immer beliebter. Während es manchen schwerfällt, sich Boxen im Rollstuhl vorzustellen, entdecken andere ihre neue Leidenschaft und finden darin ihren Lebenssinn wieder. Hier sind ein paar Geschichten.
Verlieren lernen
«Menschen sind Behinderten gegenüber weniger aufgeschlossen. Wir müssen uns mehr beweisen als nicht-behinderte Kämpfer.»
Der Kanadier Charles Wilton hat eine tetraplegische spastische Zerebralparese. Von seinen Eltern ausgesetzt, wuchs er in Pflegefamilien auf, bis er mit sieben Jahren von einem Sprachtherapeuten adoptiert wurde.
Seine Leidenschaft fürs Boxen begann in den Jahren nach seinem Schulabschluss. Er wollte Boxen nicht nur zum Spass betreiben, sondern an einem richtigen Karrierekampf teilnehmen.
Wie vielen anderen Menschen mit Behinderungen wurde auch Charles wegen seiner körperlichen Behinderung ständig gesagt «das ist unmöglich» und «das geht nicht». Doch unmöglich ist für Charles nichts und er konzentriert sich lieber darauf, was möglich ist.
«Wir sind nicht schwach. Wir sind mehr als unser Körper.»
Gegen Ende 2017 machten sich Charles und sein Manager daran, Charles ersten offiziellen Rollstuhl-Boxkampf zu organisieren. Doch als die Organisatoren in Grossbritannien jegliche Haftung für Rollstuhlboxen ablehnten, wurde sein erster Kampf kurz vorher abgesagt.
Das hielt Charles aber nicht davon ab, seinen Traum weiterzuverfolgen. Schliesslich tat er sich mit Jesse Sparkman zusammen, einem anderen Rollstuhlboxer mit Zerebralparese, der Charles' Einladung zu einem illegalen Boxkampf annahm. Der Kampf hatte keine Zuschauer, wurde aber im Rahmen der Dokumentation unten gefilmt. Sie zeigt, wie stark Menschen mit Behinderungen sind, sowohl physisch als auch mental.
Charles hat den Kampf nicht gewonnen – aber er war trotzdem zufrieden, weil er gelernt hat, wie man verliert. Er sagte:
«Ich habe verloren, bin aber kein Verlierer. Das kann passieren. Das gehört zum Boxen. Du verlierst und dann geht es weiter zu grösseren Herausforderungen.»
Kraft und Vertrauen wieder aufbauen
Wie Charles gewinnt auch Donahue Fields aus New York durchs Rollstuhlboxen mehr, als er verliert. Seit einer Schussverletzung aus dem Jahr 2003 ist er querschnittgelähmt. Seine Rehabilitation begann heftig: Nach seiner Beinamputation wurde er in der Pflegeeinrichtung zusammengeschlagen und ausgeraubt. In der Folge war er stark depressiv und hatte Suizidgedanken. Zum Glück traf er dann seine Partnerin, was ihm half, seine Lebensmotivation wieder zu finden.
Eines der ersten Dinge, die Donahue wichtig waren, war wieder zu trainieren. Er entdeckte Rollstuhlboxen, eine Sportart, die ihm nicht nur wieder zu seiner körperlichen Bestform verhilft, sondern ihm auch ermöglicht, sich bei einem Angriff im Rollstuhl selbst zu verteidigen. Im Gegensatz zu Leuten, die Boxen als gewaltfördernd ansehen, sieht Donahue im Boxen eine Möglichkeit, sich von Gewalt zu befreien:
«Manche von uns sehen es (Boxen) als eine Möglichkeit, unsere innere Willenskraft freizusetzen. Es hat einen Zweck. Es erfüllt uns.»
Im Video teilt er weitere positive Veränderungen, die Rollstuhlboxen mit sich bringt:
Heute unterrichtet Donahue Rollstuhlboxen. Er hofft, dass er anderen Behinderten helfen kann, ebenfalls wieder Kraft und Vertrauen aufzubauen. Er wünscht sich auch, dass der Sport eine paralympische Disziplin wird.
Ziel Paralympics
Mit diesem Wunsch ist Donahue nicht der Einzige. Colin Wood, ein britischer Sportcoach, der progressiv sein Augenlicht verliert, hat das gleiche Ziel. Er wünscht sich einen Sport, an dem Menschen mit allen Arten von Behinderungen teilnehmen und sich messen können. Rollstuhlboxen ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, weil es für Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen geeignet ist und Ausdauer wie auch Koordination verbessern kann.
Einige Hürden sind noch zu überwinden, bevor Rollstuhlboxen in die paralympischen Disziplinen aufgenommen werden kann. Gemäss dem Kapitel zu den Paralympischen Spielen im Handbuch des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) muss jede Individualsportart «weit verbreitet und regelmässig in mindestens 32 Ländern und drei IPC-Regionen praktiziert werden», um für die Paralympics in Frage zu kommen. Ausserdem muss es für die Sportart ein standardisiertes Regelwerk geben.
In seinem Bestreben, den paralympischen Traum der Realität einen Schritt näher zu bringen, gründete Colin Organisationen wie den World Adaptive Boxing Council. Sein Ziel ist es, Boxerinnen und Boxer aus der ganzen Welt zum adaptiven Boxen – ein anderer Ausdruck für Rollstuhlboxen – unter den gleichen Regeln zusammenzubringen: dreiminütige Kampfrunden mit immer obligatorischem Kopfschutz. Die Boxer werden nicht nur in sechs verschiedene Gewichtsklassen eingeteilt, sondern auch nach Behinderung; dies mithilfe eines Punktesystems, das ihren Grad an Mobilität und Rumpfbeweglichkeit im Rollstuhl erfasst.
Im folgenden Video erläutern Colin und seine Kollegen, wie sie Rollstuhlboxen einheitlich und sicher machen:
Bisher wurden 28 Sportarten in die Paralympics aufgenommen, mit Badminton und Taekwondo als neue Disziplinen bei den bevorstehenden Paralympics in Tokio. Hoffentlich wird es dieser adaptive Kampfsport dank Colin und aller anderen Fans des Rollstuhlboxens bald als Disziplin in die Paralympics schaffen.
Was haltet Ihr vom Rollstuhlboxen? Welche paralympische Disziplin schaut Ihr Euch am liebsten an?