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Reisen & Freizeit

Selbstverteidigung und Selbstbehauptung im Rollstuhl

Mit Selbstsicherheit und den richtigen Techniken lassen sich Angriffe abwehren. Wir zeigen, wie’s funktioniert

Ein Angriff, ein Übergriff, ein Überfall: Diese unerwarteten Attacken sind Horrorszenarien für uns alle. Oft sind Opfer im Überraschungsmoment nicht fähig, sich wirkungsvoll zu wehren. Das muss nicht sein! Wer diese Ausnahmesituationen in gezielten Übungen durchspielt und entsprechende Techniken einstudiert, kann Angriffe im Idealfall verhindern, deeskalieren oder schlägt die (überraschten) Angreifer in die Flucht – auch als vermeintlich «leichtes Opfer».

Raus aus der Opferrolle!

Gewusst? Täter/-innen suchen ihre Opfer meist anhand der Körpersprache aus. Deshalb starten wir mit einigen Grundregeln:

  • Selbstbewusstes Auftreten: selbstsichere Körperhaltung, Gestik und Mimik
  • Blickkontakt halten
  • Laute und deutliche Ansagen oder schreien
  • Ansprechen von Passanten in der Nähe
  • Bereitschaft zur Gegenwehr
  • Ein gutes «Bauchgefühl», Situationen richtig einzuschätzen
  • Im schlimmsten Fall: Anwenden der erlernten Selbstverteidigungstechniken

«Der klügste Krieger ist der, der niemals kämpfen muss.»

Sun Tzu, 544 v. Chr.

Von der Theorie …

Auch Menschen mit Beeinträchtigungen können sich wirkungsvolle Techniken aneignen, um sich bei Bedarf selbst zu verteidigen – auch gegen körperlich stärkere Gegner. Wie unterschieden sich die unterschiedlichen Disziplinen?

Während der Kampfsport (z. B. Rollstuhlboxen) eine wettkampfmässige Auseinandersetzung mit anderen Sportlerinnen und Sportlern ist, steht bei der Kampfkunst (z. B. Tai-Chi) die Perfektion der Bewegung im Vordergrund. Dies fördert die Persönlichkeit, die Selbstbeherrschung und die Konzentration.

Die Techniken aus Kampfsport und Kampfkunst dienen als Grundlage für die Selbstverteidigung: Hier geht es ums Erlernen von praktischen Methoden zur Verteidigung von Leib und Leben, die gleichzeitig zu mehr Sicherheit und somit mehr Lebensqualität verhelfen.

… ins Handeln

Abends auf dem Nachhauseweg versuchte ein Mann, Ronja sexuell zu belästigen – sie konnte ihn erfolgreich abwehren. Im Video zeigt die deutsche Rollstuhl-Meisterin im Skaten Verteidigungstechniken für Menschen im Rollstuhl. Sie absolviert seit längerem einen inklusiven Selbstverteidigungskurs.

Während einem Selbstverteidigungskurs werden verschiedene Bereiche gestärkt:

  • Prävention: Auftreten, Schutz vor ungewollten Blicken, Schockstarre überwinden
  • Deeskalation: verbales Verhalten
  • Physische Verteidigung: einfache und effiziente Notwehr
  • Fitness, Kondition und Beweglichkeit

Die körperliche Abwehr ist die letzte Stufe einer wirkungsvollen Verteidigung. Um den «Freeze-Mode» zu verhindern, sind Aufmerksamkeit, Bereitschaft und ein konstruktiver Umgang mit der Angst nötig. Nebst der sprachlichen Gegenwehr helfen im Notfall passende Selbstverteidigungstechniken, die auch unter Stress abrufbar sind.

Erfahrene und spezialisierte Trainer/-innen passen diese Techniken individuell an die Fähigkeiten der Teilnehmenden an. Denn: Anders als vermutet haben Menschen im Rollstuhl durch die nahe Kampfdistanz oft sehr gute und effektive Abwehrmöglichkeiten.

Rollstuhlfahrer John Marrable aus Neuseeland zeigt einige Selbstverteidigungstechniken gegen verschiedene Angriffe von Fussgängern (Video auf Englisch).

Je nach Behinderungsart gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, sich selbst zu verteidigen. Im Ernstfall kann auch der Rollstuhl als «Waffe» Vorteile bieten: Eine schnelle Drehung, ein rasches Zurück- oder Vorwärtsfahren kann Angreifenden unter Umständen die Schienbeine brechen. Doch so weit muss es nicht kommen …

Die Kampfsportler Peer Klausing und Thorsten Paul zeigen Rollstuhlfahrenden, wie sie Situationen deeskalieren und sich notfalls zur Wehr setzen können. Die Selbstverteidigung wird in einem speziell auf Rollstuhlfahrer abgestimmten Selbstverteidigungskurs gelehrt.

IKKAIDO Schweiz

Die grösste Sportorganisation der Welt im Bereich Inklusion in den Bewegungsformen und Kampfkünsten ist auf allen Kontinenten aktiv. IKKAIDO Schweiz ist ein Zusammenschluss von Kampfkunstschulen, -verbänden und Vereinen, die Kampfkunsttraining (Budō) für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen organisieren. Budo ist die Sammelbezeichnung für japanische Kampfkünste wie beispielsweise Jiu Jitsu, Judo, Karate und Aikidō, die nebst dem Aspekt des Kampfes auch innere Lehren vermitteln.

Nachfolgend einige Kontakte, die passende Selbstverteidigungskurse oder Ausbildungen anbieten:

PluSport: Karate für alle

Alessandro Aquino führt die Wadokai Karateschule Rorschach, wo er als Sensei (Meister) traditionelles japanisches Karate vermittelt. Nachdem er 2011 das erste Karatetraining für eine Insieme-Gruppe organisierte, wurde das Thema für den heutigen Projektleiter und Gründer des Vereins Karate für alle eine Herzensangelegenheit.

Seit 2021 unterstützt er im Auftrag des schweizerischen Behindertensport-Dachverbands PluSport bestehende Karateschulen dabei, neue Kurse für Menschen mit Beeinträchtigung aufzubauen. Zudem finden jährlich PluSport-Karatecamps statt. Übrigens: Bei Interesse werden gewünschte Angebote organisiert.

In den Kursen sei eine «Symbiose von Kampfsport, Kampfkunst und Selbstverteidigung» zentral. Denn mit den Karatetechniken werden Selbstvertrauen und positive Energie gestärkt, was auch bei der Verarbeitung von bereits erlebten Übergriffen helfe.

In der Mitte des Bildes sind zwei Menschen im Rollstuhl, gekleidet in weissen Karateanzügen: links der Karatetrainer Alessandro Aquino, rechts die Schülerin Tina Fritschi. Im Hintergrund sitzen weitere Teilnehmende auf einer Bank am Rand der Turnhalle.

Geschafft! Tina Fritschi (rechts) strahlt nach ihrem Training im PluSport-Karatecamp. Alessandro Aquino (links) ist der technische Leiter der jährlichen Karatecamps für Menschen mit Beeinträchtigung.

«Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer haben viel Metall um sich herum – ideal für die Selbstverteidigung.»

Alessandro Aquino, PluSport Karate Projektleiter

Karate Taisho

Seit 2016 bietet die Karateschule Taisho in Zusammenarbeit mit PluSport und dem BSC Luzern einen Behindertensport-Kurs an. Einzige Voraussetzung für Menschen mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung ist eine gewisse Selbstständigkeit im Alltag.

Vor dem Karatetraining in der Gruppe werden im Einzelunterricht die Ausgangslage definiert und die Grundpositionen erlernt. Bis zu elf Personen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen im Alter von 12 bis 52 Jahren trainieren jeweils am Montag von 19 bis 20 Uhr (ausser Schulferien) in der Turnhalle Dula in Luzern.

Kyusho für Menschen im Rollstuhl

Kyūsho ist für Menschen mit Beeinträchtigungen ideal, da die Technik weniger Kraft, Schnelligkeit und Geschick benötigt. Die Wirkung auf die angreifende Person ist enorm, da die anatomisch schwächeren Strukturen angegriffen werden.

Richard Emery, technischer Direktor und Präsident von Kyusho Chaise Roulante (KCR), war begeisterter Kampfsportler und Lehrer für Aikido und Shiatsu. Zusammen mit Kilian Forclaz, Kyusho-Lehrer und Präsident von Kyusho-VS, entwickelte Emery nach mehrjähriger Forschung eine neue Kampfsportart: Kyusho für Menschen im Rollstuhl. Gemeinsam adaptierten, entwickelten und kreierten die beiden Enthusiasten eine wirksame Methode der Selbstverteidigung und integrierten energetische und therapeutische Ansätze.

Unter Anweisung von Master Evan Pantazi demonstriert ein Rollstuhlfahrer Kyusho-Techniken zur Abwehr von Angreifern (Video auf Englisch).

In Zusammenarbeit mit dem Rollstuhlclub Valais romand fand 2010 ein erster Kurs statt. Inzwischen werden in der Turnhalle der SUVA-Rehabilitationsklinik in Sion regelmässig Kyusho-Kurse für Menschen im Rollstuhl angeboten. Die nächsten Daten und weitere Informationen sind auf der Webseite von Kyusho KCR ersichtlich.

Selbstverteidigung mit WingTsun

Mit WingTsun sollen Gefahrensituationen bereits vor der Eskalation erkannt werden. Teilnehmende erkennen die Körpersprache des Gegners und erlernen wirksame Deeskalationstechniken mit geringem Energieaufwand. Die EWTO-Schulen Schweiz GmbH bietet seit über 40 Jahren Selbstverteidigungsangebote an rund 30 Standorten in der Schweiz. Interessierte können sich direkt bei einer Schule in der Nähe melden und an einer Probelektion teilnehmen.

«Wir bieten keine separaten Kurse für Menschen im Rollstuhl an, sondern integrieren sie in den normalen Gruppenunterricht. Schliesslich entspricht das der Situation, die sie im Alltag antreffen.»

Regula Schembri, Geschäftsleiterin EWTO-Schulen Schweiz GmbH

Dass WingTsun auch für Menschen im Rollstuhl geeignet ist, bestätigt Fernando Buonocore. Aufgrund von Myelomeningozele, der schwersten und häufigsten Form von Spina bifida, ist er seit Geburt im Rollstuhl. Als Behinderter fühlte er sich oft benachteiligt und erlebte auf der Strasse einige handgreifliche Auseinandersetzungen. «Ich bin nicht aufs Maul gefallen und lasse mir nicht alles bieten. Deshalb wollte ich nicht länger als einfaches Opfer betrachtet werden.»

Mit einem Freizeitangebot des Sozialdienstes «Selbstverteidigung für Behinderte» begann seine Kampfsport-Leidenschaft. Dieser einwöchige Intensivkurs beeindruckte ihn so sehr, dass er seit 1997 regelmässig in der WingTsun-Schule Oberbuchsiten trainiert und bereits am 5. Höheren Grad arbeitet. Dem 53-Jährigen ist bewusst: Wer Kampfkunst erlernt, braucht Kampfgeist, Durchhaltewillen und den Mut, auch gegen die eigenen Schwächen und Unzulänglichkeiten zu kämpfen.

«Viele haben mir gesagt, dass Selbstverteidigung im Rollstuhl nicht möglich sei. Ich sage: Eine Garantie oder ein 0815-Rezept gibt’s nicht, aber findet es während einem Probetraining selbst raus. Kampfsporttechniken auf die individuellen Möglichkeiten anzupassen, ist und bleibt hochexperimentell – doch es lohnt sich!»

Fernando Buonocore, Rollstuhlfahrer und WingTsun-Anwender

The No Names: Selbstverteidigung mit Handicap

Der seit 2016 bestehende Verein The No Names basiert auf den eigenen Erfahrungen des Präsidenten Marcel Wäfler. Er ist selbst körperlich beeinträchtigt, arbeitet als polysportiver Leiter bei Procap und verfügt über den 1. Dan im Nippon Jiu Jitsu.

Nicht «namenlos», sondern positiv «sprachlos» macht, wie bei den Kursen individuelle Bedürfnisse berücksichtigt werden: Sie finden in Belp oder an einem anderen gewünschten Standort statt, entweder als Einzel- oder als Gruppenkurs, als mehrteiliges Angebot, als Halb- oder Ganztagesseminare.

Eine Kursteilnehmerin berichtet hier über ihre Eindrücke des Workshops «Selbstverteidigung im Alltag für Menschen mit einer Behinderung», organisiert durch Procap Zentralschweiz. Wer sich angesprochen fühlt, kann sich für den mehrteiligen Selbstverteidigungskurs ab 20. Oktober 2023 in der Region Thun anmelden. Der Kurs wir in Zusammenarbeit mit Procap Kanton Bern durchgeführt.

«Auch der psychologische Aspekt spielt eine grosse Rolle: Man muss sich selbst zutrauen, Widerstand leisten zu können.»

Marcel Wäfler, Präsident The No Names

Auf einem Parkplatz wehrt sich ein Mann im Rollstuhl gegen einen Angreifer, der links im Bild steht. Der Angreifer schlägt mit einem Schirm auf das Opfer, das den Angriff mit seinem Schirm erfolgreich abwehrt.

Zusammen mit seinem Trainingspartner Roland Burgener (links) hat Marcel Wäfler von The No Names diverse Kursblöcke und Übungen zusammengestellt. Dabei wird trainiert, wie man bedrohliche Lagen meistern kann – auch mit Alltagsgegenständen wie einem Schirm, einem Kugelschreiber oder der Handtasche.

Kung Fu im Rollstuhl: Wing Chun

Wing Chun eignet sich für alle, die sich ohne gesundheitliche Risiken und Angst in die Kunst des Kämpfens und der Selbstverteidigung einweihen lassen wollen. Diese Kampfform arbeitet nicht nach dem Prinzip «Kraft gegen Kraft», sondern mit der Kraft des Gegners; mittels geschickt gewählter Techniken und Positionen im Raum zum gleichzeitig ausgeführten Konterangriff.

JustKnow Schweiz bietet Einzelunterricht oder Gruppentrainings in Luzern, Baar und Zürich, speziell zugeschnitten auf die individuellen Möglichkeiten von Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Zudem werden auf Anfrage auch Selbstverteidigungskurse mit der israelischen Technik Krav Maga angeboten.

«Schlagfertige» Argumente

Wer eine Kampfsportart, Kampfkunst oder Selbstverteidigung erlernt, stärkt nicht nur seine Muskeln:

  • Schulung von körperlicher und geistiger Beweglichkeit
  • Verbesserung des positiven Körpergefühls
  • Optimierung von Koordination, Ausdauer und Beweglichkeit
  • Kräftigung von Gleichgewicht und körperlichen Funktionen
  • Stärkung der Selbstsicherheit und des Selbstwertgefühls
  • Förderung von sozialer Kompetenz, z. B. Fairness, Empathie, Teamfähigkeit, Führungsqualitäten
  • Bei gemischten Trainingsgruppen: bessere Kommunikation zwischen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung sowie gezielte Förderung und Integration von gesellschaftlich benachteiligten Gruppen
  • Und nicht zuletzt: Spiel und Spass

Während einer optimalen Schulung rund um Selbstverteidigung werden folgende Themen vermittelt:

  • Wie können Angriffe verhindert werden?
  • Welche Anzeichen weisen auf potenziell gefährliche Situationen oder Personen hin?
  • Welche verbalen Mittel fördern eine Deeskalation?
  • Falls ein Angriff nicht verhindert werden kann: Welche körperlichen Verteidigungstechniken kann ich anwenden – individuell abgestimmt auf meine Fähigkeiten?

Die polizeiliche Kriminalstatistik 2022 zeigt, dass Gewaltstraftaten meist in öffentlichem Raum vorkommen: 25'590 Mal. Im privaten Raum wurden 19'806 Gewaltstraftaten registriert.

Der Jahresbericht 2022 der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zeigt einen Anstieg der registrierten Straftaten: 2022 wurden 46’687 Gewaltstraftaten registriert, davon galten 1942 als schwer. Dies entspricht einem Anstieg von 277 schweren Straftaten (+16,6 %). Zugenommen haben insbesondere schwere Körperverletzung (+112, +17,2 %), Vergewaltigung (+110, +14,5 %) und schwerer Raub (+38, +126,7 %). Die Mehrheit dieser Gewaltstraftaten wurde im öffentlichen Raum (56,4 %) verübt. Bei den beschuldigten Personen handelte es sich überwiegend um Männer (22’723, gegenüber 5523 Frauen), bei den geschädigten Personen waren 20’850 Männer und 15’722 Frauen.

Auf in den Kampf!

Während einem Probetraining oder Schnupperkurs findest du heraus, ob die Trainer/-innen und die Technik zu deinen eigenen Fähigkeiten und Wünschen passen. Und natürlich ist ein regelmässiges Training entscheidend für den Erfolg. Wir wünschen viel Spass beim Entdecken deiner «starken Seite».

Warst du schon einmal in einer brenzligen Situation und musstest dich wehren? Hast du bereits einen Selbstverteidigungskurs besucht oder machst du regelmässig Kampfsport oder -kunst? Dann erzähl uns mehr davon …

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