In einer neuen Blog-Serie erklären wir, wie man die Wissenschaft besser versteht
- 5 Minuten Lesezeit
- 22. November 2020
- claudia.zanini
In einer neuen Blog-Serie erklären wir, wie man die Wissenschaft besser versteht
Wie oft lesen wir von einem neuen Medikament, das getestet wird? Wenn wir realistisch einschätzen wollen, ob und wann wir es auf dem Markt erwarten dürfen, müssen wir erst einmal verstehen, an welchem Punkt der Forschung wir uns befinden.
Im Fernsehen, in sozialen Medien und in Zeitungen wird häufig über gesundheitsbezogene Nachrichten aus der Wissenschaft berichtet. Regelmässig werden Ärzte und Forscher eingeladen, die Nachrichten zu kommentieren.
In den letzten Monaten zum Beispiel war das dominante Thema die COVID-19-Pandemie. Im «Vademecum für den Umgang mit Informationen zum Coronavirus» – zu finden in unseren Aktuellen Hinweisen – haben wir erörtert, wie man sich in der Flut von Nachrichten zurechtfindet: wie man die Informationsquelle und die Zuverlässigkeit von Nachrichten beurteilt, wie man Verschwörungstheorien erkennt, usw. In einem Beitrag sind wir auch kurz auf die Frage eingegangen: Widerspricht die Wissenschaft sich selbst?
In den wissenschaftlichen Nachrichten geht es aber nicht nur um COVID-19, sondern auch um andere Bereiche, wie z. B. Rückenmarksverletzungen. Aus diesem Grund haben wir uns entschieden, einige Aspekte in einer Blog-Serie zu vertiefen.
Eine neue Blog-Serie, um die Wissenschaft besser zu verstehen
Wissenschaftliche Studien sind komplex. Wenn wir verstehen, wie sie funktionieren, können wir besser beurteilen, ob und wann das getestete Medikament oder Medizinprodukt eines Tages tatsächlich unser Leben verbessern könnte. Wir lesen zum Beispiel oft von der Entwicklung eines neuen Impfstoffs gegen COVID-19 oder von einem neuen Implantat, das Querschnittgelähmten das Laufen ermöglichen soll. Ziel dieser Blog-Artikel ist es, dass jede/r von uns realistische Hoffnungen und Erwartungen in die Ergebnisse dieser Studien entwickeln kann.
Natürlich werden wir durch die Lektüre dieses Blogs nicht zu Experten in Epidemiologie oder Neurologie. Wir werden jedoch lernen, uns die richtigen Fragen zu stellen, um zum Beispiel zu verstehen,
- ob eine Studie vielversprechend ist
- ob die Ergebnisse bald in der klinischen Praxis angewendet werden können oder ob es noch Jahre dauern wird
- ob sich die Ergebnisse auf unsere persönliche Situation anwenden lassen oder eher nicht
- usw.
Eine kritische und analytische Betrachtung von wissenschaftlichen Entdeckungen ist nützlich – gerade in der sogenannten «Informationsgesellschaft», in der Nachrichten allzu häufig «verpackt» werden, um ein Publikum zu erreichen und Klicks zu generieren. Tatsächlich wählen viele Zeitungen und News-Seiten reisserische Schlagzeilen und wirkungsvolle Sätze, wenn sie über wissenschaftliche Erkenntnisse berichten. Das führt leider oft dazu, dass wir Dinge denken und hoffen, die (noch) nicht der Realität entsprechen. Wie oft haben wir in den letzten Jahren von revolutionären Studien gelesen, die eine «Heilung» von Rückenmarksverletzungen versprechen?
Wenn wir also Informationen über wissenschaftliche Studien lesen oder erhalten, ist es hilfreich, wenn wir uns die folgenden Fragen stellen:
- An welchem Punkt der Forschung stehen wir?
- Um welche Art von Studie handelt es sich?
- Sind die Ergebnisse für mich relevant?
In diesem ersten Teil befassen wir uns mit der ersten Frage: An welchem Punkt der Forschung stehen wir?
Es braucht Jahre, um ein Medikament zu entwickeln
Die Wissenschaft schreitet langsam voran, Schritt für Schritt. So dauert beispielsweise die Entwicklung eines Medikaments oder Impfstoffs Jahre, im Durchschnitt zehn. Dies ist notwendig, um präzise und mit strengen Verfahren beurteilen zu können, ob das Medikament nicht nur wirksam, sondern auch sicher und für den Körper gut verträglich ist.
Die Entwicklung eines Arzneimittels beginnt mit dem Studium der Biochemie und Physiologie der Krankheit. Aus diesen Studien wird eine Substanz mit einer therapeutischen Wirkung identifiziert – Wirkstoff genannt –, von der man annimmt, dass sie gegen die Krankheit wirksam ist. Der Wirkstoff muss dann im Labor getestet werden, zuerst mit «in vitro»-Tests (d. h. in Reagenzgläsern) und dann mit «in vivo»-Tests (d. h. an Tieren).
Nur wenn diese Tests erfolgreich sind, geht man zu den klinischen Studien über, also mit Menschen. Diese dauern sehr lange, sogar 6-7 Jahre, und sind in vier Phasen unterteilt. Drei davon finden vor der Marktzulassung des Medikaments statt, die vierte Phase danach.
In der ersten Phase wird das Medikament einer kleinen Gruppe von – in der Regel gesunden – Menschen verabreicht, um unerwünschte Wirkungen zu messen. In der zweiten Phase erhalten einige Dutzend oder Hunderte Freiwillige das Medikament, die von der Krankheit betroffen sind. Ziel ist herauszufinden, in welcher Dosis das Medikament am besten wirkt.
In der dritten Phase wird die Wirksamkeit des Medikaments bewertet. Dazu vergleicht man es mit ähnlichen, bereits auf dem Markt befindlichen Medikamenten und beurteilt das Verhältnis von Nutzen und Risiken. In diesem Stadium wird das Medikament Hunderten oder Tausenden Menschen über mehrere Monate verabreicht. Die Überwachung der Wirkung des Medikaments kann bis zu mehreren Jahren dauern.
Wenn das Medikament all diese Tests besteht, wird es für den Markt zugelassen. Nach der Vermarktung beginnt die vierte Phase, in der die selteneren Nebenwirkungen überwacht werden, welche bei einer Massenverwendung des Medikaments auftreten.
Nur jedes zehnte Medikament schafft es auf den Markt
Dieser langwierige Prozess dient der Beurteilung der Sicherheit und Wirksamkeit des Wirkstoffs. Tatsächlich unterliegt jeder Schritt der Genehmigung durch die zuständigen Behörden, z. B. Swissmedic in der Schweiz.
Wenn wir also von einer Studie lesen, die bei Tests im Labor hervorragende Ergebnisse erzielt, denken wir daran, dass die Studie noch in einem frühen Stadium ist und noch viele weitere Schritte nötig sind, bevor das Produkt oder Medikament in die Apotheken kommt.
Zudem enden nicht alle Studien mit der Marktzulassung eines Produkts. Wenn auch die Mehrzahl der Medikamente die erste Studienphase übersteht, erreichen rund 90 % nicht die Marktreife, weil sie nicht effektiv sind oder die Anforderungen hinsichtlich Sicherheit oder Nutzen-Risiko-Verhältnis nicht erfüllen.
Da wir nun den langen und komplexen Entwicklungsprozess eines neuen Medikaments oder einer neuen Therapie kennen, können wir schliessen: Zu wissen, in welcher Phase sich die Studie befindet, ist sehr wichtig, um die eigenen Erwartungen entsprechend anzupassen.
Doch nicht nur die zeitliche Phase der Studie macht den Unterschied; auch die Art und Weise, wie die Studie durchgeführt wird, wirkt sich darauf aus, welche Schlussfolgerungen wir ziehen können und welche Erwartungen wir haben dürfen. Wie man zwischen verschiedenen Arten von Studien unterscheidet, erfahrt Ihr in der nächsten Folge!