Je mehr wir wissen, desto besser gehen wir mit Spastik um. Das SPZ in Nottwil führt Kurse durch.
- 4 Minuten Lesezeit
- 11. März 2019
- fritz
Je mehr wir wissen, desto besser gehen wir mit Spastik um. Das SPZ in Nottwil führt Kurse durch.
Mit Spastik haben viele von uns täglich zu tun. Oft nervt sie. Um zu erfahren, was es Neues zum Thema gibt, ging ich ans Schweizer Paraplegiker-Zentrum. Das SPZ bietet im Rahmen seines Para Know-how-Programms einen Kurs an, der Betroffene umfassend informiert. Ich berichte, was ich dort erfahren habe.
Das griechische Wort Spasmos heisst Krampf. Daraus leiten sich die Sammelbegriffe Spastik und Spastizität ab. Spastik äussert sich in «geschwindigkeitsabhängiger Muskeltonuserhöhung bei passiver Dehnung». So sprach Dr. Jürgen Schneider, der leitende Neurologe des SPZ. Weniger wissenschaftlich formuliert, bedeutet das: Ruckartige Dehnungen erhöhen die Spannung und damit den Tonus in der Muskulatur.
Nach Schneiders Präsentation ergänzte Christa Schwager, Fachexpertin Bewegung am SPZ, dass sich der Muskeltonus auch erhöht, wenn wir lange in der gleichen Stellung verharren. Deswegen fühlen wir uns wie ein Brett, wenn wir morgens aufstehen, oder kommen nach langer Fahrt kaum mehr aus dem Auto. Wir sind verspannt.
Das ergeht allen Menschen so. Bei einer Rückenmarkverletzung jedoch verstärkt die Spastik diesen Zustand. Es entsteht ein sogenannter Reflexbogen. Er funktioniert folgendermassen:
Von aussen wirkt ein Reiz auf unseren Körper ein. Die sensorischen Nervenzellen nehmen ihn auf und leiten ihn ins Rückenmark. Dieses ist unterhalb der Verletzungsstelle intakt – doch seine Verbindung zum regulierenden Gehirn ist ganz oder teilweise durchtrennt.
Deshalb antworten die motorischen Nervenzellen im Rückenmark direkt auf den Sinnesreiz. Sie tun das auf ihre Art: Sie lassen die Muskeln anspannen, der Tonus erhöht sich. In der Folge verkrampft die Muskulatur, Spasmen schiessen ein. Es ergeben sich viel zu heftige Beuge- oder Streckbewegungen. Die spastische Muskulatur ist nie leicht angespannt, sondern entweder inaktiv oder unter voller Spannung.
Brechen lassen sich diese Bewegungsmuster nur durch langsame Gegenbewegungen: Aus der Beugung in eine krampffreie Streckung und umgekehrt. Sich bewegen ist das beste und wohl gesündeste Mittel gegen Spastik. Sich im Rollstuhl winden hilft schon, um entstehender Starre entgegenzuwirken.
Im Idealfall erfassen Bewegungsübungen aber den ganzen Körper. Ein klassisches Beispiel ist die Bauchlage. Wir, die den ganzen Tag sitzen, dehnen praktisch die gesamte Skelettmuskulatur, wenn wir auf eine Liege transferieren und uns auf den Bauch drehen. Liegestütze verstärken den Entspannungseffekt.
Ich gebe aber zu, mir stinkt das. Leichter durchführbar ist eine andere Übung: Kopf nach vorne beugen. Der Rumpf folgt dieser Bewegung. Die Körperspannung vermindert sich. Umgekehrt erhöht sie sich, wenn wir den Kopf nach hinten schwenken.
Bleibt die Spastik trotz entspannender Bewegungen unerträglich, gibt es Medikamente. Die einen wirken «zentral», also auf das Nervensystem, die anderen setzen direkt bei den Muskeln an. Unter den zentral wirkenden ist Baclofen – Markenname Lioresal – nach wie vor der Klassiker. Wie alle diese Mittel dämpft es aber nicht nur die Spastik, sondern das ganze System. So auch den Blutdruck, wir fühlen uns schläfrig, etwas schlapp, und im schlechtesten Falle übel.
Die Medikamente, die direkt auf die Muskeln einwirken, sind allerdings auch nicht frei von unangenehmen Nebenwirkungen. Dantrolen – Markenname Dantamacrin – ist hier eines der bekanntesten Mittel. Mich benebelt es. Mydocalm ist ein weiteres Beispiel. Es macht nicht müde, heisst es. Ich kenne es aber nicht.
Neuerdings gibt es gegen die Spastik auch das gute alte Pflänzchen aus Indien: Cannabis sativa mit seinen Wirkstoffen THC und CBD. Sie wirken zentral, sie dämpfen, und THC verändert überdies das Bewusstsein. Dank diesem Wirkstoff ist Cannabis, im Gassenjargon «Kiff», eine Vergnügungsdroge. Für medizinische Zwecke wird deshalb so gering wie möglich dosiert. Allerdings: Wer gerne höher fliegt, kifft auch mehr und senkt damit ganz nebenbei seinen Muskeltonus, den Druck im Blutkreislauf und die Darmaktivität. Schon bald fühlt er sich etwas schlapp und ist verstopft.
Umfassend und nachhaltig wirkende Therapien und Mittel gegen Spastik gibt es nicht. Wir müssen lernen, mit ihr umzugehen. Sie sorgt dafür, dass unsere Muskeln nicht verkümmern. Dies wiederum unterstützt unseren Kreislauf, denn die ständigen Verspannungen regen ihn an. Beim Sitzen, aber auch bei gewissen Bewegungen, zum Beispiel beim Transfer ins Bett, gibt uns die Spastik die nötige Stabilität. Ohne sie würden wir schlaff in unserem Skelett hängen.
Letztlich überwiegen die Vorteile der Spastik. Ich gebe allerdings zu: Es gibt Momente, da fällt es schwer, diese Einsicht zu glauben.
Die nächsten Kurse «Spastizität und Spastik» von Para Know-how finden am 11. Juni und am 24. Oktober 2019 in Nottwil statt, jeweils 16.00 – 17.45 Uhr. Anmeldung unter https://www.paraplegie.ch/spz/de/aus-und-weiterbildung/para-know-how-kurse.
Wer sich schon vorher weiter informieren möchte, dem seien die beiden Wiki-Artikel zum Thema Spastik bei Querschnittlähmung und Therapie der Spastik bei Querschnittlähmung von unserem früheren Online-Doktor Dr_Hans ans Herz gelegt.