Liebe Fleur,
Cystomanometrien machen wir regelmässig, oft in jährlichen Abständen, bei Querschnittgelähmten. Dabei wird ein dünner Katheter in die Blase eingeführt, der den Blasendruck beim Befüllen misst. Er enthält auch Elektroden, die die Aktivität der Blasenschliessmuskeln misst. Damit kann man feststellen, bei welchem Blasenvolumen der Druck ansteigt. Wird der Druck zu gross, wird sich die Blase entleeren, das ist bei uns allen so, auch bei Fussgängern. Bei der Entleerung kann dann gemessen werden, wie schnell der Urin abfliesst, das heisst wie gross der Widerstand der Harnröhre und des Schliessmuskels ist. Damit gewinnt man einen kompletten Überblick über die Blasenfunktion.
Die Blase besteht aus dem Detrusormuskel, der die Blase "ausquetscht", und den beiden Schliessmuskeln, Sphincter genannt. Der äussere Schliessmuskel kann man willkürlich betätigen, zum Beispiel wenn man das Urinieren aus irgend einem Grund unterbrechen muss. Der Innere Schliessmuskel und der Detrusormuskel sind vom autonomen Nervensystem innerviert und funktionieren automatisch: Im Normalfall ist der Detrusor schlaff und der Schliessmuskel angespannt: Die Blase kann sich füllen und es tritt kein Urin aus. Beim Urinieren wird der Detrusor aktiviert und der Schliessmuskel erschlafft, damit der Urin ungehindert austreten kann. Bei einer Lähmung ist es oft so, dass die beiden Muskeln nicht mehr synchron arbeiten, es entsteht eine Detrusor-Sphincter-Dyssynergie DSD. Dabei sind beide Muskeln immer etwas aktiv, und der Blasendruck steigt. Das führt zu einer zunehmenden Verdickung der Blasenwand, die Harnleiter , die von den Nieren kommend in die Blase münden, können nicht mehr richtig abfliessen. Der Urin staut sich bis in die Nieren und eine Niereninsuffizienz entsteht. Es ist deshalb wichtig, die Blasenfunktion regelmässig zu überprüfen.
Es gibt mehrere Behandlungsoptionen dafür: Medikamente, welche aber gelegentlich zu Nebenwirkungen wie Müdigkeit oder Vergesslichkeit führen. Botox in die Blasenwand, was alle paar Monate wiederholt werden muss. Dann Neurostimulatoren, die chirurgisch eingesetzt werden. Früher waren die Brindley Stimulatoren das einzige, was wir hatten, heute sind die sacralen Neuromodulatoren beliebter, da viel weniger invasiv. Diese werden auch bei Fussgängern mit Inkontinenz zunehmend eingesetzt.
Die Untersuchung ist völlig schmerzfrei und wird auch bei Fussgängern mit voller Sensibilität nicht als unangenehm empfunden. Das einzige, was man spürt, ist das Gefühl einer vollen Blase. Die Katheter sind auch nicht hart, sondern flexibel. Ich weiss nicht, welches Kathetermaterial es vor 15 Jahren gab, aber ich nehme an, dass es bereits ausgereift war, da man Cystomanometrien seit ca 1880 macht. Die Untersuchungen bei deinem Freund wurden wahrscheinlich nicht fachgerecht durchgeführt.
Die Untersuchungssituation ist nicht angenehm, Man wird auf einen Stuhl platziert, der ähnlich dem in der Gynäkologie ist. Und in dieser ausgelieferten Position einem Grobian ausgeliefert sein ist extrem traumatisierend. Dein Freund sollte unbedingt psychologische Hilfe bekommen und das Geschehene aufarbeiten.
Allenfalls wäre es für die Verarbeitung auch hilfreich, wenn er auch einmal mit einem unserer Urologen darüber reden könnte und man ihm, wenn er will, die heutigen Katheter zeigt. Unsere Urologen sind alle sehr gesprächsorientiert und niemals würden sie diese Untersuchung machen, wenn sie schmerzt. Aber das ist sicher schon ein grosser Schritt, und ich glaube, dass er zunächst psychologisch darauf vorbereitet werden muss.
Ich hoffe, einige Erklärungen geboten zu haben und wünsche Dir und deinem Freund alles Gute.
Herzliche Grüsse
Dr. JEAN