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Gesellschaft

Im Bildungssektor die eigene Behinderung offenlegen – gut oder schlecht?

Inklusive Bildung in der Praxis

Inklusive Bildung in der Praxis

In einer Welt, die vor allem auf Nichtbehinderte ausgerichtet ist, haben Menschen mit Behinderungen selten die Wahl, wann und wie sie ihre Behinderung bekanntgeben. Die Offenlegung einer Behinderung geht häufig mit Angst vor Diskriminierung, ungerechter Beurteilung und schlechter inklusiver Unterstützung derjenigen einher, die sie benötigen.

Wie kann die Offenlegung von Behinderung fair und effektiv gehandhabt werden? In vielen Ländern herrscht darüber noch kein Konsens. In diesem Blogbeitrag beleuchten wir Situationen und Ansichten im Hinblick auf die Offenlegung von Behinderung und auf inklusive Bildung an Schulen und Universitäten in verschiedenen Ländern, einschliesslich der Schweiz.

Mehr Medizinstudenten in den USA geben ihre Behinderungen bekannt

Schulen und Universitäten sind kleine Abbilder der Gesellschaft. Sie eignen sich am besten, um über Inklusion zu lernen und sie zu leben, damit sie Teil unseres Alltags wird. Für den Medizinbereich haben Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass sich Stigmata und Klischees über Menschen mit Behinderung am besten abbauen liessen, wenn es mehr Medizinstudenten und somit mehr Ärzte mit allen Arten von Behinderungen gäbe. Um dies zu erreichen, sollten alle die gleichen Zugangsmöglichkeiten und Chancen auf Bildung und Berufsausbildung erhalten.

Um herauszufinden, wie Zugang und Inklusion in der medizinischen Ausbildung verbessert werden können, führten Wissenschaftler aus den USA mehrere Studien durch. Zwischen 2016 und 2019 befragten sie medizinische Fakultäten, Medizinstudenten und Ärzte mit Behinderungen über ihre Erfahrungen.

Die Studie zeigt einen Anstieg an Studenten mit Behinderungen von 2.7 % auf 4.6 % in nur drei Jahren an den 64 befragten medizinischen Fakultäten. Der Anstieg könnte auf bessere Anpassungen und mehr Anerkennung für Menschen mit Behinderungen im Medizinstudium hindeuten. Einige Studenten gaben an, dass sie sich weniger gehemmt fühlten, bei den Zulassungsgesprächen ihre Behinderung und ihre Bedürfnisse anzugeben, wenn die Institute sich offen und bemüht zeigen, Anpassungen für Studenten mit Behinderungen vorzunehmen.

Gemäss Dinesh Plipana, Arzt mit Tetraplegie, mache die Technologie heutzutage Inklusion in der Medizin möglich, doch die medizinische Ausbildung sei in manchen Ländern noch immer sehr unflexibel. Das bedeutet, dass es für Menschen mit Behinderungen noch nicht genügend Unterstützung in ihrer Ausbildung zu medizinischen Berufen gibt. Seiner Meinung nach braucht es in der medizinischen Ausbildung mehr unkonventionelles Denken: «Wir können Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen ausbilden … und Lösungen finden, die wir bisher für unmöglich gehalten haben».

Verbesserungen in der baulichen Zugänglichkeit des Hochschulgeländes sind nur ein Kriterium für erfolgreiche Inklusion in der Bildung. Die obige Studie zeigt weitere bedeutende Faktoren auf wie z. B. klare, zugängliche Richtlinien und Peer-Support-Netzwerke, die Studenten mit Behinderungen besser unterstützen können. Beispielsweise fühlen sich viele Personen im Umfeld von Menschen mit Behinderungen immer noch unwohl. Sie sind unsicher, wie sie sich ihren Kollegen mit Behinderungen gegenüber angemessen verhalten sollen.

Um die berufliche Ausbildung von Menschen mit Behinderungen angemessen zu unterstützen, empfiehlt die Studie unter anderem, Themen wie Inklusion von Behinderten und respektvolle Ausdrucksweise in die Lehrpläne und Pädagogik aufzunehmen. Die Förderung einer behindertenfreundlichen Kultur, in der es z. B. normal ist, um Hilfe zu bitten, wäre für Studenten mit Behinderungen eine willkommene Erleichterung.

In Irland werden bei der Schulanmeldung keine Fragen über Behinderungen der Kinder gestellt

In Irland gibt es eine andere Meinung zur Förderung inklusiver Bildung. Letztes Jahr gab der Nationale Rat für Sonderpädagogik (NCSE) eine formelle Empfehlung an das irische Bildungsministerium, den Schulen ab 2021 zu verbieten, Eltern bei der Einschulung über Behinderungen ihrer Kinder zu befragen. Die Empfehlung soll das Land bei der Einführung des Modells der "vollständigen Inklusion" unterstützen, in dem alle Kinder in Regelschulen unterrichtet werden, unabhängig von ihrem Intelligenz- oder Behinderungsniveau.

Obwohl sich die Ansichten über die Umsetzbarkeit dieses Modells scheiden, herrscht allgemein Einigung, dass alle Schüler gemeinsam auf derselben Schule unterrichtet werden sollten und nicht getrennt. Im Oktober 2019 veröffentlichte der NCSE einen Zwischenbericht über seine politischen Empfehlungen zu Sonderschulen und -klassen. Laut mehrerer Studien scheinen Schüler mit besonderen Bildungsbedürfnissen kurz- und langfristig besser abzuschneiden, wenn sie Regelschulen statt Sonderschulen besuchen. Zudem wurde ein offenbar positiver Einfluss auf die Entwicklung bei denjenigen Kindern festgestellt, die inklusive anstatt spezielle Vorschulprogramme besuchen. Für gesicherte Erkenntnisse sind jedoch weitere Studien nötig.

kinder mit und ohne behinderung lernen gemeinsam

Inklusive Bildung schätzt die Vielfalt und fördert den Abbau diskriminierender Einstellungen in der Gesellschaft. (Quelle: www.chicagoparent.com/)

Schulen haben jedoch Bedenken über die Empfehlung des NCSE geäussert. Sie empfinden die Befragung über Behinderung vor der Einschulung als notwendig, um ihre Kapazitäten besser abschätzen und den Bedürfnissen der Kinder gerecht werden zu können. Zudem bezweifeln Behindertenorganisationen, dass sich ein durchgängig inklusives Bildungssystem überhaupt umsetzen lässt, solange es keine ausreichende obligatorische Ausbildung von Lehrkräften gibt und solange die Schulen nichts daran ändern, wie sie die Ergebnisse ihrer Bildung beurteilen.

Inklusive Bildungspolitik in der Schweiz

Gemäss einer offiziellen Statistik erhielten 2017/18 4,5 % aller schulpflichtigen Schweizer Schüler Unterstützung für besondere Bildungsbedürfnisse. Davon waren mehr als die Hälfte (53 %) in Standardklassen integriert, während 6 % eine Sonderklasse besuchten und 41 % eine Sonderschule.

Bildung unterliegt der Verantwortung der 26 Kantone in der Schweiz; manche Kantone sind offener und andere weniger offen für die Aufnahme von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Regelschulen. Sonderpädagogik wird nur auf Bewerbung hin und nach Beurteilung durch einen psychologischen Dienst oder andere Spezialisten angeboten. Jeder Fall durchläuft einen standardisierten und umfangreichen Beurteilungsprozess, um abzuklären, wie viel Lernunterstützung benötigt wird.

Barbara Fäh, Rektorin der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich, teilte ihre Ansichten über inklusive Bildung in einem Interview mit dem SRF. Ihrer Meinung nach ist Inklusion wichtig, wann immer möglich, doch Trennung sinnvoll, wenn nötig.

«Im Mittelpunkt stehen die Entwicklung und das Wohl des Kindes. Schulen spiegeln die Gesellschaft wider und in deren Entwicklung wird Integration für alle eine immer grössere Rolle spielen.»

Barbara Fäh erklärt das Schulprojekt «Fokus starke Lernbeziehungen». Es zielt darauf ab, die Anzahl an im Unterricht involvierten Lehrern zu reduzieren und zugleich die Unterrichtsqualität beizubehalten. Sie spricht sich ausserdem für eine engere Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften von Regel- und Sonderschulen aus, damit alle Kinder in der Schweiz die gleichen Bildungschancen haben.

Schweizer Unis verlangen einen Nachweis für die Behinderung

An Universitäten in der Schweiz können Studenten mit Behinderungen in der Regel vor und nach der Immatrikulation Unterstützung vom Studentenwerk beantragen. Manche Einrichtungen haben sogar eine unabhängige Stelle, um Studenten bei allen möglichen physischen, psychischen oder administrativen Herausforderungen zu unterstützen. Um den Prozess zu beschleunigen, haben viele Stellen klare Richtlinien, die erklären, worauf sich Studenten mit Behinderungen vorbereiten sollten, bevor sie Unterstützung beantragen. Manche Universitäten ermuntern Studenten sogar, sich gemeinsam anzuschauen, wie ihren Bedürfnissen am besten entsprochen werden kann.

Generell ist es schön zu sehen, wie Bildungseinrichtungen in der Schweiz sich bemühen, ihre Campus-Anlagen zugänglich zu machen und inklusive Bildung für alle anzubieten. Andererseits frage ich mich, wie man Bürokratie weiter abbauen kann. Beispielsweise müssen Studenten mit Behinderungen gemäss der englischsprachigen Website der Universität Zürich einen "glaubhaften Nachweis für ihre Behinderung" vorlegen, um ihren Bedarf an angemessenen Anpassungen und Unterstützung zu demonstrieren.

Diese Formulierung machte mich ziemlich sprachlos. Ich frage mich, ob es sich dabei um eine Richtlinie zur Sicherstellung einer zugeschnittenen Unterstützung handelt oder ob es darum geht, Missbräuche der Unterstützungsleistungen zu verhindern. Falls Letzteres, wäre es dann nicht besser, es den Instituten zu überlassen, ob sie einen solchen Nachweis im Zweifelsfall verlangen möchten, anstatt die Studenten generell zur Vorlage zu verpflichten? Ich denke, die meisten Studenten, die Unterstützungsleistungen beantragen, sind auch wirklich darauf angewiesen; eine solches Prozedere ist für sie eine zusätzliche Hürde, nur weil eine kleine Anzahl von Studenten die Leistungen missbraucht. Meiner Ansicht nach wäre es sinnvoller, nur dann einen Nachweis zu verlangen, wenn ein begründeter Verdacht auf Missbrauch besteht.

Welche Erfahrungen habt ihr mit der Offenlegung von Behinderung und mit inklusiver Bildung gemacht? Stresst es Euch, wenn Ihr Eure Behinderung offenlegen oder nachweisen müsst?

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