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Gesellschaft

Was dürfen wir hoffen?

Hoffnung ist eine Lebenshaltung. Sie trägt uns. Sie öffnet Wege zu Möglichem und zu Utopien.

Hoffnung ist eine Lebenshaltung. Sie trägt uns. Sie öffnet Wege zu Möglichem und zu Utopien.

Im November des vergangenen Jahres gab es nebst vielen anderen Untersuchungen auch eine Computertomographie meines Rückenmarks. Vielleicht hatte sich ja dort etwas gebildet, das meine plötzlich stark erhöhte und kaum mehr ertragbare Spastik erklären würde. Ich stand im Jahre 40 meines unfallbedingten Daseins im Rollstuhl.

An der Frakturstelle ist fast alles futsch. Solche Wahrheiten verletzen das Prinzip Hoffnung.

Die Bilder, die aus der Tomographie entstanden, bestätigten aber, was ich vermutet hatte. Nichts Neues im Rückenmark! An den Verletzungsstellen auf Höhe des fünften und siebten Halswirbels ist das Mark gequetscht. Das ahnte ich auch ohne Bild schon seit 40 Jahren. Der Kanal, den es durchläuft, ist verengt und umgeben von zusammengewachsenen Wirbelkörpern – eigentlich erstaunlich, dass durch diesen schmalen Weg noch so viele Signale dringen, dass ich noch den ganzen Körper – wenn auch eingeschränkt – spüre und im Rumpf sowie den Beinen schwache Bewegungen auslösen kann.

Für noch mehr Nervenverbindungen ist es hier zu eng. Das erzählen die Bilder ekelhaft deutlich. Sie verletzen so das Prinzip Hoffnung. Dieses Prinzip lehrt uns, dass wir nicht alles widerspruchslos hinnehmen müssen, was unser Verstand als unabänderlich und gegeben beurteilt. Wir sollen und dürfen auch scheinbar Unmögliches erhoffen und an Utopien glauben. Bezogen auf uns, Paras und Tetras, bedeutet das: Es steht uns frei, in Tagträumen zu erwägen, wie es wäre, wenn unser verletztes Rückenmark sich in dieser Minute spontan erholen würde.

Träume legen offen, dass wir traumatisiert sind.

In unseren nächtlichen Träumen tun wir das ohnehin. Wir gehen aufrechten Schrittes, sind frei von Verkrampfungsmustern in unseren Bewegungen und haben keine vegetativen Beeinträchtigungen. Träume im Rollstuhl, als würde er zu unserem Organismus gehören, sind selten. Dagegen führen uns Traumerlebnisse mit den Jahren immer häufiger an Grenzen, die indirekt auf unsere Einschränkungen anspielen. In den geträumten Schauspielen verwickeln wir uns in Geschehnisse, die uns verunsichern, uns den Handlungsspielraum entziehen. Wir verlieren die Orientierung, als ob wir in die göttliche Sperrzone eindringen wollten.

In diesem Moment zeigt sich, dass unser Bewusstsein sich im Laufe der Zeit doch verändert hat. Es stört die meist bewegungsgetriebenen Traumgeschichten und weist zurück zu den widerspenstigen Realitäten. Sie schränken uns ein, verwehren uns manches und erschweren vieles. Wir erwachen. Albträume verlaufen ähnlich, wenn auch schauerlicher.

Auch die vielen Hindernisse traumatisieren uns auf Dauer.

Die aufgezwungene Lebensweise im Rollstuhl hat unser Urvertrauen erschüttert. Schon kleine Pannen bringen uns in beunruhigende Grenzsituationen, vielerorts lauern unerwartete Hindernisse, und unser geschundener Körper läuft oft im roten Bereich. Wir führen ein Leben, als wären wir unentwegt in brenzligen Verkehrssituationen.

Das sind unsere Traumata, die bis in die Träume durchschlagen. Es erfordert vieles, jedenfalls mehr als vor dem Trauma, dass wir uns sicher und geborgen fühlen, uns unbekümmert der Leichtigkeit des Seins hingeben. Es gibt sie aber diese Momente. Je besser wir uns einrichten, desto häufiger erleben wir solche Momente, desto länger halten sie an und wandeln sich zu angenehmen Zuständen. In Träumen, die sich von solchen Lebensphasen nähren, erscheint der Rollstuhl nicht – weil er nicht stört.

Dieser Anpassungsprozess ist endlos. Die nötige Energie liefert uns die Hoffnung. So schaffen wir es, das widernatürliche Leben im Rollstuhl doch so zu verinnerlichen, dass wir uns wieder sicher und geborgen fühlen.

Ich schreibe das alles bewusst in der Wir-Form. Ich unterstelle nämlich, dass es allen so ergehen muss. Stimmt das? Eure Erfahrungen würden mich interessieren.

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